Filmfestival Karlovy Vary:Eine trübe Kristallkugel

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Hält ihn mit beiden Händen so fest, dass ihn ja auch keiner wegnimmt: Regisseur Václav Kadrnka mit dem Kristallglobus. (Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Bei seiner 52. Auflage hätte das Filmfestival Karlsbad einen sensationell guten Siegerfilm präsentieren können, doch die Jury bemerkt es nicht.

Von Paul Katzenberger

Juries bei Filmfestivals liegen bei ihren Entscheidungen dann besonders richtig, wenn sie heute schon besser als andere erkennen, was sich morgen durchsetzen wird. Als etwa die Juroren der 70. Mostra von Venedig unter Bernardo Bertolucci 2013 den "Goldenen Löwen" dem Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi für seinen Film "Das andere Rom" zugedachten, war das Unverständnis groß - auch die Presse konnte die Entscheidung oftmals nicht nachvollziehen.

Doch Bertolucci und seine Kollegen hatten in dem Film wohl doch etwas gesehen, was anderen verborgen geblieben war, zumindest sollte Rosis Erfolg in Venedig keine Eintagsfliege bleiben. 2016 holte er sich den Goldenen Bären der Berlinale mit seiner Doku "Seefeuer" - dieses Mal im überwältigenden Konsens nahezu aller Beobachter.

Ob die Jury des diesjährigen Internationalen Filmfestivals Karlovy Vary in diesem Sinne richtig entschieden hat, ist allerdings anzuzweifeln. Ihr Urteil, den tschechischen Beitrag "Křižáček" ("Little Crusader") mit dem Karlsbader Kristallglobus auszuzeichnen, war zwar fraglos erstaunlich, doch diese Überraschung war eher nicht das Ergebnis einer besonders profunden Entscheidung, sondern schlicht ein Fehlurteil.

Denn "Little Crusader" mag in seiner formalen Strenge Arthouse-Puristen begeistern, doch wirklich Neues bot der Film von Regisseur Václav Kadrnka in seiner vorsätzlichen Langsamkeit kaum. Seit der griechische Großmeister Theo Angelopolous in den Siebzigerjahren den Langmut als Stilmittel des Arthouse-Kinos etabliert hat, wird das Adagio geradezu als Garant für künstlerisch wertvolle Filme betrachtet. Dabei wird allerdings oft übersehen, dass überlange Einstellungen für sich selbst noch kein Qualitätsmerkmal darstellen.

In "Little Crusader" begibt sich der Ritter Bořek (Karel Roden, Tschechiens schauspielerische Allzweckwaffe mit Hollywood-Erfahrung) im 13. Jahrhundert auf die verzweifelte Suche nach seinem Sohn Jenik (Matouš John), der sich einem Kinderkreuzzug angeschlossen hat. Dabei verliert Bořek allmählich die Orientierung und der eigentliche Grund seiner Mission gerät ihm aus dem Blick - er wird selbst zum Gesuchten.

Ab und zu gelingt Karlsbad ein Coup

Damit erschöpft sich der Plot, den Kadrnkas Kameramann Jan Baset Stritezsky zwar mit bildgewaltigen Landschaftstableaus anreichert, die freilich nicht ausreichen, "Little Crusader" einen herausgehobenen Platz in der Filmgeschichte zu verschaffen.

Somit ist "Little Crusader" einer der vielen Karlsbader Siegerfilme, die schnell in Vergessenheit geraten werden. Als kleines Festival der A-Kategorie tut sich die tschechische Filmschau schwer, die besten Filme eines Jahrgangs in den Wettbewerb zu bekommen. Diese finden ihren Weg allzu oft zu den Großfestivals in Cannes, Berlin oder Venedig, mit deren Wettbewerben sich Karlsbad in aller Regel nicht messen kann.

Allerdings gelingt den Programmierern auch im böhmischen Kurort ab und zu ein Coup, wie etwa im Jahr 2001, als Jean-Pierre Jeunet mit seinem Kultfilm "Die fabelhafte Welt der Amèlie" triumphierte. "Amèlie" steht noch immer in der BBC-Liste der 100 wichtigsten Filme des 21. Jahrhunderts, während keiner der Siegerfilme des Jahres 2001 von Cannes, Berlin oder Venedig dort verzeichnet ist.

Vor diesem Hintergrund erwies sich die Entscheidung der Jury in diesem Jahr als besonders ärgerlich. Denn 2017 bestand tatsächlich die seltene Chance eines "Amelie"-Jahrgangs mit glänzendem Siegerfilm: Der Wetbbewerbsbeitrag "Arrhythmia" ("Herzrhythmusstörung") des russischen Regisseurs Boris Chlebnikow hatte alles, was ein Film braucht, um Bestand zu haben. Er ist von großem Witz, zutiefst berührend und zeichnet nebenbei ein liebevolles wie gleichermaßen beunruhigendes Sittenbild der russischen Gesellschaft.

Die Filmkritiker, die in der Festivalzeitung die Wettbewerbsfilme zensierten, gaben "Arrhythmia" im Durchschnitt 4,5 von fünf möglichen Punkten. Kein Werk seit "Amelie" hat in Karlsbad in dieser Wertung auch nur einen annähernd hohen Wert erreicht. Hätte Chlebnikow mit diesem brillanten Film in Berlin, Venedig oder Cannes gewonnen - er wäre ein würdiger Sieger gewesen.

Aleksandr Jatsenko und Irina Gorbatschewa spielen in "Arrhythmia" das junge russische Ehepaar Oleg und Katja, das in eine Krise gerät. Katja liebt Oleg, doch gerade deswegen hält sie es einfach nicht mehr aus, dass Oleg ihr so wenig Aufmerksamkeit entgegenbringt.

Selbst in ihrer Gegenwart lässt er sich nicht von dem männertypsichen Pinkeln an den nächsten Baum abhalten, und statt mit ihr stille Abende der Zweisamkeit zu genießen, feiert er lieber mit seinen Freunden feuchtfröhliche Spontanfeste. Es ist das allzu bekannte Leid von Frauen, deren Männer sie als Sexualpartnerin gerne in Anspruch nehmen und ansonsten möglichst unbehelligt ihren Leidenschaften (Alkohol, Fußball, Kumpel, etc.) frönen wollen. Katja reißt der Geduldsfaden - sie will die Scheidung.

Der Zuschauer kann das nur allzu gut nachvollziehen. Wie konnte dieser unsensible Tor überhaupt jemals an diese tolle Frau gelangen?

Chlebnikow, der neben Natalia Meschchaninowa auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, löst die Frage dramaturgisch sehr geschickt auf. Er gibt seinem Film im weiteren Verlauf allen Raum, diesen Oleg zunehmend ins Herz schließen zu können - trotz all seiner Schwächen.

Der berührende Heroismus von Sanitätern

So schwer es dem jungen Mann nämlich fällt, Regeln des partnerschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten, so wenig ordnet er sich auch in seinem Sanitäter-Beruf den Richtlinien der russischen Gesundheitsbürokratie unter. Nur dass dies im Gegensatz zu seinem Verhalten gegenüber Katja mehr als angezeigt erscheint. Denn dem System geht es ausschließlich um eine fehlgeleitete Effizienz, wohingegen bei Oleg immer das Retten von Menschenleben an erster Stelle steht.

Als er ein halbtotes, von einem Starkstromschlag getroffenes, Mädchen auf einer Wiese reanimieren muss, greift er zum letzten - streng verbotenen - Mittel und stellt die Atmung in letzter Sekunde durch einen massiven Eingriff per Skalpell her. "Das ist Feld-Chirurgie", ruft sein Kollege noch entsetzt, doch dass das Mädchen danach überhaupt eine minimale Überlebenschance hat, verdankt es Oleg, der wegen der blutigen Operation unter freiem Himmel massive Probleme mit seinem Chef bekommt.

Den Heroismus von Sanitätern hat kürzlich die erschütternde Kriegs-Doku "Die letzten Männer von Aleppo" deutlich aufgezeigt. Dass dieser Berufsstand allerdings auch in Friedenszeiten sehr viel Anerkennung verdient, ist selten berührender vor Augen geführt worden als nun in "Arrhythmia".

Stellten in Karlsbad den Wettbewerbsfilm "Arrythmia" vor (vlnr): Produzentin Natalia Drozd, Regisseur Boris Chlebnikow, Drehbuchautorin Natalia Meschchaninowa and Schauspielerin Irina Gorbacheva. (Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Die "Herzrhythmusstörung", die der Film im Titel trägt, ist eigentlich das Problem eines Gleichklangs: des aufbegehrenden Verhaltens Olegs im privaten und beruflichen Bereich. Dabei bedarf die rhythmisch gesunde Herzfrequenz im medizinische Sinne zweier gegenläufiger Impulse, des stimulierenden Sympathikus und des dämpfenden Parasympathikus.

Übersetzt ins Nichtmedizinische, Lebenspraktische, kann Olegs Herzrhythmus also nur wieder in Takt kommen, wenn er dem Sympathikus des Sanitäters den Parasympathikus des Ehemanns entgegensetzt. Genau darauf läuft Chlebnikows Film in einem großartigen Finale hinaus, in dem Oleg und Katja wieder zu einander finden.

Die Welt, in der das Ehepaar lebt, wird ihnen stets viel abverlangen - das macht Chlebnikow bis zur letzten Einstellung klar. Doch was macht das aus, wenn in diesem Kosmos so viel augenzwinkernde Menschlichkeit angesiedelt ist?

Zum genau gegenteiligen Fazit gelangte in Karlsbad der Wettbewerbsbeitrag "Daha" ("Immer noch mehr"). Für ein Spielfilmdebüt erwies sich die Arbeit des türkischen Regisseurs Onur Saylak als ungewöhnlich reif und angesichts der jüngsten Demontage der türkischen Demokratie auch von aktueller Relevanz.

Saylak zeichnet in seinem Film ein düsteres Bild seines Landes, in dem Geld fast alles bestimmt und Werte kaum zählen: Der 14-jährige Gaza (Hayat Van Eck) lebt mit seinem Vater Ahad (Ahmet Mümtaz Taylan) am Ägäischen Meer. Der begabte Bursche würde gerne auf eine weiterführende Schule in Istanbul gehen, doch Ahad will seinen Sohn nicht ziehen lassen. Denn er hat es auf das große Geld abgesehen, dass er als Schlepper von syrischen Flüchtlingen kassieren kann, und dabei kommt es ihm gelegen, wenn ihm der Sohn zur Hand geht.

Hoffnung auf die vielen kleinen Lichtblicke

Der Konflikt zwischen Vater und Sohn spitzt sich zu, als ein Fluchtversuch Gazas scheitert. Ahad schmiert die Polizei und lässt ihn aus dem Bus holen, der ihn nach Istanbul bringen sollte. Gaza merkt, dass er in dem korrupten Land ohne Geld keine Chance hat. Also orientiert er sich um und gibt seine Bildungsziele auf. Stattdessen wird er nun selbst zum Schlepper von Flüchtlingen, der dabei noch menschenverachtender vorgeht als der Vater.

Es ist ein zutiefst pessimistischer Blick, den Saylak in "Daha" auf die Welt wirft: Wenn Werte und Ambitionen nicht mehr gelten, bestimmt das unheilvolle Dasein das Sein. Wie viel positiver sah das in diesem Karlsbader Wettbewerb Boris Chlebnikow? Mit seinem Film sagte der Russe: "Das lebensbejahende Sein kann selbst ein prekäres Dasein positiv verändern."

Der Regisseur brachte damit die Hoffnung auf die vielen kleinen Lichtblicke zum Ausdruck, die einen für die Rückschläge im Leben entschädigen. Und damit war er in Karlsbad an einem sehr passenden Ort, denn das zweitälteste Filmfestival Europas hat in seiner langen Geschichte vielen Widrigkeiten getrotzt, um dann doch immer wieder große Filmkunst zu präsentieren. Doch die Preisrichter hatten das in diesem Jahr offensichtlich nicht bemerkt.

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