Filmfestspiele in Venedig:Der Schurke und sein Hundeblick

Venedig: Goldener Löwe für italienischen Dokumentarfilm

Schlossher an der Autobahn - der sehr unmajestätische Prinz Filippo in Gianfranco Rosis Dokumentarfilm "Sacro Gra".

(Foto: dpa)

Das Kino macht der Welt den Prozess: Die 70. Mostra del Cinema in Venedig prämiert Filme über Wut, Hass und Gewalt. Und zeichnet das erste Mal einen Dokumentarfilm aus.

Von Tobias Kniebe und Susan Vahabzadeh

Die Frage am Ende eines großen Filmfestivals, was das Kino nun umtreibt, wie es auf die Gegenwart reagiert, in welche Zukunft es aufbrechen will - die ist nie ganz leicht zu beantworten. So schwer wie diesmal, am Ende der 70. Mostra del Cinema in Venedig, schien das aber noch selten zu sein. Und auch die Entscheidungen der Wettbewerbsjury helfen dabei wenig.

Der Goldene Löwe zum Beispiel blieb endlich mal wieder in Italien: Gianfranco Rosi gewann mit seinem Dokumentarfilm "Sacro GRA". Darin umkreist er die Autobahn, die Rom umkreist. Dort findet er einen alten Mann, der in einem Zimmer mit seiner erwachsenen Tochter lebt; einen abstrusen Abkömmling eines alten Adelsgeschlechts mit grauem Zopf und Zuhälter-Manieren; einen Palmenexperten, der Käfer belauscht; ein paar alternde Nutten und einen Sanitäter, der mit dem Krankenwagen auf der GRA zirkuliert und die Unfallopfer einsammelt, die sie produziert.

Und dann geht er nach Hause, in eine leere Wohnung, immer noch nah am Ring, und skypt mit den Nutten. Das ist alles ganz schön - aber wenn Rosi sagt, er habe sich Italo Calvinos "Die unsichtbaren Städte" zum Vorbild genommen, dann klingt das nach einer hochtrabenden Zielsetzung, die im Film nicht so recht sichtbar wird. Zusammengenommen ergeben seine Miniaturen nicht mehr als die Erkenntnis, dass der Autobahnrand keine gute Wohngegend ist.

Oder der Große Preis der Jury für Tsai Ming-Liangs "Stray Dogs": Ein Vater mit seinen beiden Kindern in einem Abbruchhaus. Es passiert nichts, es wird kaum gesprochen, Tableaus voller Einsamkeit und Melancholie reihen sich aneinander. Das ist schon faszinierend - aber anders als in früheren Filmen von Tsai Ming-Liang ist es auch so voller prätentiöser Gesten, als sei der Regisseur von seinem Stil selbst berauscht. Wenn in der letzten Sequenz des Films, einer Rückblende, ein Paar kurz vor der Trennung etwa zwanzig Minuten lang mit Tränen in den Augen ein halbzerstörtes Wandgemälde anstarrt, dann ist das keine Beobachtung von Menschen mehr, die sich in ihrem Umfeld bewegen. Es wirkt einfach nur inszeniert. Die Jury wollte - zumindest in ihrer Mehrheit - offenbar vor allem überraschen mit ihrer Wahl. Und sie wollte auch erregt und verstört werden. Das immerhin kann man als eine Art Tendenz festhalten. Jene Filmemacher im Wettbewerb, die in ihren Werken ganz bewusst Hass, Wut und andere dunkle Gefühle erzeugt haben, sind dabei nicht schlecht gefahren.

Die harmlosere Variante war da noch der italienische Beitrag "Via Castellana Bandiera" von Emma Dante. Ihre 82-jährige Hauptdarstellerin Elena Cotta gewann die "Coppa Volpi" als die beste Schauspielerin. Irgendwo in den ärmlichen Außenbezirken Palermos treffen sich zwei Autofahrerinnen in einer so engen Gasse, dass eine von beiden zurücksetzen müsste. Das passiert aber nicht, und die Wut auf beiden Seiten steigt - bis die trotzige Alte am Steuer (Cotta) tot ist. Metapher für ein Land, indem es keine "Civiltà" mehr gibt und nichts mehr vor und zurück geht?

Noch deutlich düsterer der Beitrag aus Griechenland, "Miss Violence" von Alexandros Avranas (Silberner Löwe). In den eher fahlen, ruhigen, abgezirkelten Bildern des neuen griechischen Kinos entwickelt sich hier ein Horrorszenario: Elfjähriges Mädchen springt vom Balkon, als ihre kinderreiche Großfamilie gerade Geburtstag feiern will, und nach und nach kommt heraus, dass ihr graugesichtiger, ruhiger, streng wirkender Großvater wohl auch ihr Vater war - und nicht nur ihrer. Ein Inzestdrama von Fritzlschen Dimensionen, es gibt sogar Interaktionen mit dem Jugendamt, aber alle schweigen - und der Patriarch betätigt sich auch noch als Zuhälter der eigenen Töchter.

Hass und Mordgedanken

Regisseur Avranas ist recht gut darin, Hass auf diesen fahlen kleinen Mann zu erzeugen - als Zuschauer möchte man ihn töten, und genau das passiert am Ende auch. Der Schauspieler Themis Panou, der dem Schurken seinen traurigen Hundeblick geliehen hat, bekam dafür den Darstellerpreis. Einen völlig unwahrscheinlichen Superbösewicht konstruieren, Hass und Mordgedanken schüren - das gehört im Kino allerdings zu den leichtesten Übungen. Hat man gerade als Grieche nun das Recht dazu - weil man vielleicht selbst gerade vom Schicksal terrorisiert wird?

In Philip Grönings "Die Frau des Polizisten" (Spezialpreis der Jury) geht es zwar nicht um Inzest, aber um häusliche Gewalt - in der erstickend beengten Konstellation des geburtenarmen Deutschland: Vater, Mutter, Kind. Gewalt, die einmal mehr mit überkorrekten männlichen Regeln, mit männlichem Egoismus, mit dem rituellen Hineinschlüpfen in die bequemen Hausschuhe assoziiert wird, und der Täter von Beruf eben: Polizist. In einzelnen, streng getrennten Vignetten, die fast drei Stunden füllen, konzentriert sich Gröning vor allem auf die innige Mutter-Kind-Beziehung, zeigt auch mal einen netten Vater, so viel Balance muss sein - und findet schließlich erschütternde Bilder dafür, wie die Gewalt für die vierjährige Tochter zur Normalität wird.

Aber auch hier spürt man überdeutlich das Konstrukt, die wohlfeile Ideologie, auch eine gewisse Selbstgerechtigkeit: Die Welt ist, wie sie ist, also haben wir Filmemacher ja wohl das Recht, sie zu hassen und wütend zu sein. Es gab auch Filme, die sich den Umgang mit den Schrecken der Wirklichkeit schwerer gemacht haben, wie Kelly Reichardts "Night Moves", der fast gleichzeitig beim Festival in Deauville gewann, oder den Gewinner des Kritiker-Preises, Xavier Dolans "Tom à la ferme". Wenn die Juryentscheidungen dann am Ende dazu beitragen, dass Wut und Hass das Grundgefühl bleiben, das der Jahrgang 2013 in Venedig hinterlässt, ist das doch ein bisschen wenig.

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