Film:Wie ein Freund hinter der Kamera

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Vom Weiterleben mit der Krankheit: Jann Kesslers bewegende Doku "Multiple Schicksale".

Von Rainer Gansera

Die Konjunktur der Krankengeschichten im Kino hält unvermindert an, da rechnet man kaum mehr mit Überraschungen. Aber dann entfaltet Jann Kesslers Dokumentation "Multiple Schicksale" bereits in den ersten Momenten eine außergewöhnliche Kraft. Sie entspringt der persönlichen Betroffenheit des jungen Schweizer Filmemachers, und vor allem seiner Fähigkeit zu hellsichtiger Empathie. Sein Blick bezeugt eine Wahrhaftigkeit der Anteilnahme, eine Nähe, wie sie Dokumentationen nur selten gelingt.

"Meine Mama hat Multiple Sklerose, schon seit ich denken kann. Seit vielen Jahren kann sie nicht mehr sprechen." In der tagebuchartigen Form seines Erzählens berichtet Kessler zu Beginn davon, wie er der Krankheit seiner Mutter jahrelang ausgewichen ist, sie verdrängt hat. Er ist 18 Jahre alt, als er sein Filmprojekt beginnt, um sich der Wahrheit zu stellen. Er will sehen, wie auch andere Menschen mit dieser rätselhaften, chronischen Entzündung des zentralen Nervensystems umgehen. Also besucht er sechs Erkrankte - und gewinnt sechs faszinierende Porträts.

Mit der Krankheit leben - Szene aus "Multiple Schicksale". (Foto: Verleih)

"Multiple Schicksale" ist kein Informationsfilm, keine repräsentative Darstellung der Krankheit. Kessler verzichtet auf Statistiken, auf Interviews mit Ärzten und Analyse der Symptome, die von Störungen des Gleichgewichtssinns über Erschöpfungszustände bis zu Lähmungen und Sprachverlust reichen. "Ich wollte versuchen, einigen wenigen Menschen mit MS so gut zuzuhören, dass ich eine Chance habe, sie und ihre Form der MS zu verstehen", sagt er.

Kessler schafft eine wunderbare Atmosphäre intimer Vertrautheit. Seine Protagonisten öffnen sich ihm wie einem Freund, plaudern, lachen. Immer bedeutet die Krankheit für sie eine existenzielle Erschütterung und die Herausforderung, das Leben irgendwie neu angehen zu müssen. Wie von selbst ergeben sich Szenen schonungsloser Direktheit, wenn von anfänglicher Verzweiflung, Trauer und Ohnmacht die Rede ist. Wie bei der 27-jährigen Melanie, die auf einem Auge fast erblindet ist und berichtet, dass sie nach der Diagnose eine Woche lang nur geweint habe. Jetzt sagt sie verschmitzt lächelnd: "Ich habe mich stark verändert, ich lasse mich nicht mehr stressen!" Mit traumwandlerischer Sicherheit findet Kessler die charakteristischen Szenen. Wenn Luana, eine 18-jährige Schülerin der Fachmittelschule, von ihrer Sehnsucht nach Nähe spricht, begleitet er sie zum Tattoo-Shop, wo sie sich aufmunternde Parolen auf den Unterarm tätowieren lässt.

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Bei jedem der sechs sehen die Schwankungen zwischen dunkelsten Phasen der Verzweiflung und neuer Zuversicht anders aus. Kessler wagt auch die Schilderung einer Krankengeschichte, die ihm Kritik einbrachte. Während der Dreharbeiten verschlechtert sich die Situation eines Protagonisten derart heftig, dass er sich, um nicht als totaler Pflegefall zu enden, für den Suizid entscheidet und dafür - in der Schweiz ist das legal - "aktive Sterbehilfe" in Anspruch nimmt. Bis zum allerletzten Augenblick begleitet ihn die Kamera. Schwer erträgliche Szenen, aber sie dürfen im Gesamtbild nicht fehlen. Kessler propagiert diese Suizidentscheidung nicht, er zeigt am Beispiel seiner Mutter, dass man auch bei massivsten Ausprägungen der MS noch würdige Umgangsformen mit den Patienten finden kann.

Leitmotiv seines Films, der in der Schweiz zum beachtlichen Kinoerfolg wurde, ist die Frage: Kann es gelingen, die Krankheit anzunehmen, ihr vielleicht sogar etwas abzugewinnen? Für Oliver wird die Hinwendung zur Religiosität zum Rettungsanker. Die schwer gehbehinderte Graziella erklärt: "Man muss sich damit abfinden, dass diese Krankheit zum Leben dazugehört", und versucht, ihrem familiären Leben eine Struktur der Normalität zu geben.

Die Krankheit erinnert uns an unsere Hinfälligkeit, an den Tod. Das Memento mori schwingt in den Begegnungen immer mit. Aber Jann Kessler wendet es mit einer für seine Jugend erstaunlichen Souveränität und Leichtigkeit zur Herausforderung ans Leben.

Multiple Schicksale - Vom Kampf um den eigenen Körper , CH 2015 - Buch, Regie, Kamera, Ton: Jann Kessler. Montage, Kommentartext: Martin Witz, Kessler. Spot On Distribution, 89 Minuten.

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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