Film- und Fernsehschauspieler:Zum Greifen nahe

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Joachim Król und das Orchestre du Soleil kommen mit Albert Camus' "Der erste Mensch" in die Kammerspiele. Sie wollen den Text an das Lebensgefühl der Zuschauer heran holen

Interview von Egbert Tholl

Am 2. Januar ist Joachim Król zu Gast im Schauspielhaus der Kammerspiele. In einer Produktion von Martin Mühleis, die vor zwei Jahren am Staatstheater Braunschweig herauskam, spielt, spricht, ist er, begleitet vom Orchestre du Soleil, Albert Camus. "Der erste Mensch" ist die posthum veröffentlichte, unvollendete, aus dem Wrack des Autos, mit dem er verunglückte, geborgene Autobiografie des Nobelpreisträgers Camus, der hier anhand der Figur eines fiktiven Jacques das eigene Leben, die Kindheit in bitterer Armut und das Vertrauen eines Lehrers in die Fähigkeiten des Kindes erzählt. Camus' Mutter war Analphabetin, der Autor erzählt davon, und das Bundesministerium für Bildung und Forschung begleitet die Tournee, die sich nach dem Auftritt in München anschließt. Für Król, einem der zartesten deutschen Film- und Fernsehschauspieler, ist sie abermals ein längerer Ausflug auf die Bühne, deren Handwerk er einst an der Otto-Falckenberg-Schule gelernt hatte.

SZ: Herr Król, mussten Sie in den vergangenen zwei Jahren öfters an Ihre Rolle in Detlev Bucks Film "Wir können auch anders" denken, in welchem Sie Kipp, einen westdeutschen Analphabeten spielen, der mit seinem Bruder Most nach der Wende nach Mecklenburg-Vorpommern fährt, wo die beiden das Haus der Großmutter geerbt haben?

Joachim Król: "Wir können auch anders" ist doch ein schöner Titel für den Beginn einer Schauspielerlaufbahn. Auf den Film werde ich immer noch regelmäßig angesprochen. Daraus ist dann auch die Idee entstanden, gemeinsam mit einem Kollegen von Ihnen, Lucas Vogelsang, das Buch "Was wollen die denn hier?" zu schreiben. Wir sind in Teilen der Odyssee von Kipp und Most nachgereist und haben Interviews mit Menschen aus Ost und West gemacht mit der Fragestellung, was in den vergangenen 30 Jahren mit ihrem Leben passiert sei.

Und?

Da gab es zum Beispiel Familien in Ostdeutschland, die gesagt haben, bei ihnen habe "Wir können auch anders" "Dinner for one" abgelöst. Sie schauen den Film jedes Mal an Silvester, ohne Ton, und sprechen die Dialoge selber. Aber ich weiß jetzt nicht genau, worauf Ihre Frage abzielte . . .

Die zielte darauf ab, dass Kipp nicht der beste Leser ist.

Kipp war, sagen wir mal, förderungsbedürftig. Aber er hat ja seinen Weg gemacht.

Und nun gehen Sie mit einem autobiografischen Roman auf die Bühne, dessen Hauptfigur, also der Erzähler, aus einem Analphabetenhaushalt kommt.

Das stimmt. Nur dass, wenn man die beiden schon nebeneinander stellen will, Kipp sicherlich noch andere Defizite hat, während unserem Protagonisten in "Der erste Mensch" die gesellschaftlichen Zwänge und die Tatsachen, die seiner Herkunft geschuldet sind, im Wege stehen. Seine Begabung und die glückhafte Begegnung mit einem fortschrittlichen Pädagogen lassen ihn dann schließlich zu dem werden, den wir heute alle kennen.

Entzückenderweise hat Camus, nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte, einen Brief an diesen Lehrer geschrieben.

Die Erinnerung an diesen "Schlüsselmoment" wird ihn immer begleitet haben. Ich glaube, dass Camus in der Begegnung mit Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten ein viel größeres Spektrum an Beurteilungsfähigkeit hatte. Er war viel freier als Menschen, die aus bürgerlichen, klarer strukturierten Zusammenhängen kommen, wo man, wie wir es auch im Text haben, klar weiß: Wenn mein Vater Offizier war, werde ich auch Offizier. Und mein Vaterland ist mein Vaterland. Wohingegen Albert Camus sagt, wir hatten den Strand, das Wasser und die Sonne. Was ist das: 'Vaterland'?

Ausflug auf die Bühne: Joachim Król liest Albert Camus' "Der erste Mensch", begleitet vom Orchestre du Soleil. Er führt durch eine Welt der Armut und Lebensfreude und fragt danach, wie wir wurden, was wir sind. (Foto: Remo Fröhlicher)

Und Albert Camus sagt auch, oder lässt in diesem Roman sagen, dass sie hier, also in Algerien, eigentlich gar nichts verloren haben.

Wir blicken auch da auf eine Fülle von Migrationsschicksalen. Bei aller Aktualität, was die Frage der Wichtigkeit von Bildung angeht, fand ich diesen Abschnitt so berührend, in dem er, nachdem er diese bürgerliche Seite kennengelernt hat, erzählt. Da gibt es Fotoalben, Andenken auf dem Dachboden, Verwandtschaft in Frankreich. 'Wir dagegen sind immer der erste Mensch. Jedes Kind, das bei uns auf die Welt kommt, ist der erste Mensch:' Weil es diese Referenz nicht gibt. Es gibt nicht dokumentierte Vergangenheit, es gibt nicht dieses Eigentum.

Was hat Sie daran so berührt?

Ich musste damals ständig an die Menschen denken, die uns in der Folge der Flüchtlingswelle erreicht haben. Menschen, denen nichts mehr geblieben war, außer dem, was sie tragen konnten. Die sich in kein Verhältnis zu uns setzen konnten. Schlimmer als die materielle Armut ist wahrscheinlich die Auslöschung der Biografie. Sie hatten nicht einmal mehr eine Fotografie von ihrem Haus, und das Haus irgendwo gab es auch nicht mehr.

War das damals der konkrete Anlass, die Produktion zu machen?

Nein, aber ein Gesichtspunkt. Natürlich haben wir darüber diskutiert, was wir damit eigentlich wollen, was das für eine Wirkung haben wird. Das ist ein ganz besonderer Aspekt.

Was war dann der eigentliche Auslöser für "Der erste Mensch"? Es ist ja keine normale Stadttheaterproduktion.

Vielleicht muss ich da ein bisschen weiter ausholen. Ich arbeite nun schon eine ganze Weile mit Martin Mühleis zusammen. Er hat sich auf solche Programme spezialisiert. Vor einiger Zeit wollten wir eigentlich "Gefährliche Geliebte" von Haruki Murakami machen mit einer kleinen Jazzband, weil das Buch streckenweise im Night-Club-Milieu spielt. Aber dann hat die Rechtelage gewechselt, und wir konnten den Stoff nicht mehr machen. Daraufhin hat Martin Mühleis in kürzester Zeit Alessandro Baricco und dessen Novelle "Seide" aus dem Koffer gezogen, hat eine Musik dazu komponieren lassen - und es hat gut funktioniert. Nach zwei, drei Jahren meinte er dann, lass uns mal über was anderes nachdenken: 'Guck dir das mal an.' Diese Diskussion über soziale Schranken, wie war das eigentlich in deiner Biografie, wie bist du zu dem geworden, was du heute bist? Diese Fragen sind auch durch die Migrationsdebatte wieder aktuell geworden. Wir fragen uns doch alle, was hat uns zu dem gemacht, was wir sind?

Interessant ist ja, dass Martin Mühleis offenbar erst einmal gar nicht daran denkt, nur eine Geschichte zu erzählen.

Ja, und ich dachte mir nach dem ersten Lesen, so wie Martin den Text eingerichtet hatte: Ist das nicht zu schwarz-weiß? zu einfach? Aber wenn es uns gelingt, die Leute eineinhalb Stunden zu fesseln und sie dazu zu bringen, nicht mir, sondern ihm, Camus, zuzuhören, dann bietet das jedem Zuschauer eine Möglichkeit mitzugehen. Es ist mir selten passiert, dass ich im Anschluss an Vorstellungen so lebhafte Gespräche geführt habe und viele der Zuschauer meinen, noch nie so persönlich angesprochen worden zu sein.

Und die Musiker sorgen in erster Linie für Atmosphäre?

Es gibt einen Score - den Begriff kannte ich davor nur aus dem Film -, afrikanisch-arabische Instrumente, Motive für Armut, Verlassenheit, Aufbruch. Wiederkehrende Elemente der Musik. Die Probe begann einfach so, dass die anfingen zu spielen, ich hörte erst einmal zu, und irgendwann steigt man dann ein.

Also es ist so eher fluid.

Ja genau, es fließt. Und ich folge mit dem Text der Musik. Mal mehr, mal weniger akzentuiert. Ein Zusammenspiel.

Besondere Lichtverhältnisse sorgen für eine besondere Atmosphäre. Joachim Król lesend in der Mitte der Bühne, die Mitglieder des Orchestre du Soleil im Halbkreis um ihn herum platziert. (Foto: Bernadette Fink)

Bis auf die Momente, in denen die Musik semantisch wird.

Und dann gibt es natürlich auch Stellen, wo die Musik schweigt.

Im Grunde sind Sie also auch ein Teil der Musik.

Ja. Wenigstens ist das meine Absicht. Schauspielerei ohne Musikalität geht nicht. Ich glaube, wenn die Musikalität auf der Bühne stimmt, ist der Zuschauer viel besser in der Lage, dem Geschehen, oder wie in unserem Fall, dem Erzählten zu folgen.

Ist das ein Punkt, dass Sie wieder eine größere Sehnsucht nach der Bühne entwickelt haben?

Die ist eigentlich immer da. Aber man entscheidet ja nicht alles selbst. Jemand hat mal gesagt: Leben ist das, was passiert, während man dabei ist, Pläne zu machen. Aus vielen Theaterplänen ist nichts geworden. Vor ein paar Jahren haben wir in Stuttgart das große Haus mit den "Szenen einer Ehe" wiedereröffnet. Das war mir sehr wichtig zu sehen, ob es noch geht. Und es ging.

Wie lange hatten Sie davor nicht Theater gespielt?

Da waren schon ein paar Jahre dazwischen. Momentan ist es nicht so, dass sich etwas aufdrängt. Außerdem bin ich durch die Dreherei so oft unterwegs. Lange Probenzeiträume in einer Stadt fern von zu Hause schrecken mich eher ab. Ich möchte aber trotzdem niemanden davon abhalten, Vorschläge zu machen.

Stattdessen gehen Sie nun mit Camus auf Tournee.

Aber das ist eine überschaubare Zeit. Und als Jahresauftakt eine schöne Sache. Wir spielen in großen Häusern, in Dresden, Frankfurt, Hannover. Man kommt aber auch an Orte, die man gar nicht mehr mit Theater in Zusammenhang bringt. Diese mittleren und kleinen Städte, die kein Ensemble mehr haben . . .

Naja, der Auftakt ist Ihnen ja vertraut.

Ja, das ist sehr schön. Wobei: ich habe nie auf der Bühne der Kammerspiele gestanden. In all den Jahren nicht. Ich habe im Hinterhof an der Otto-Falckenberg-Schule studiert, und im Schauspielhaus fantastisches Theater gesehen. Das war die große Zeit damals von Ernst Wendt und Dieter Dorn. Da hat man dienstags was geschaut und dann freitags, und man konnte nicht glauben, dass das an ein und demselben Haus stattfand. Die beiden waren so unfassbar verschieden in ihrer Theaterauffassung. Und die Mädchen mochten immer den Dorn und die Kerle den Wendt. Und was war das für ein großartiges Ensemble damals. Unvergesslich.

Joachim Król & L'Orchestre du Soleil: Der erste Mensc h. Die unglaubliche Geschichte einer Kindheit nach Albert Camus, Donnerstag, 2. Januar, 20 Uhr, Münchner Kammerspiele

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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