Filippo Gorini:Zwischen Struktur und Gefühl

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Der 26-jährige Filippo Gorini kommt aus einer Mailänder Familie von Naturwissenschaftlern. (Foto: Marco Borggreve)

Der Pianist Filippo Gorini erforscht akribisch die Moderne, Beethoven und Bachs "Die Kunst der Fuge". Mit überraschendem Ergebnis.

Von Helmut Mauró

Der Markplatz von Ludwigsburg, einem kleinen Städtchen bei Stuttgart, ist eine sehr beschauliche Mischung aus deutschen Bürgerhausfassaden und der italienischen Weite eines offenen Stadtplatzes. Was ganz gut das friedliche Aufeinandertreffen von lange ansässigen Schwaben und nun vor Jahrzehnten zugezogenen Italienern spiegelt. Am Samstagnachmittag dröhnen hier die gewaltigen Glocken der zwei großen Kirchen am Platz plötzlich um die Wette. Und auf der Bühne des "Forum am Schlosspark", wo die meisten Veranstaltungen der Ludwigsburger Schlossfestspiele stattfinden, winden sich wenig später Tänzer und Tänzerinnen - zur Musik von Henry Purcell, dem barocken Genie, das noch heute unmittelbar anrührt in seiner kompositorischen Strenge und vibrierenden Emotionalität.

In der ersten Reihe, Platz sechs, sitzt Filippo Gorini, ein 26-jähriger Pianist aus Mailand, der sich in diesem musikalischen Spannungsfeld von perfekter Konstruktion und melodischer Leidenschaft am wohlsten fühlt. Am nächsten Tag soll er nebenan im Schloss Johann Sebastian Bachs "Die Kunst der Fuge" spielen, dieses spielerisch hochkomplexe Werk, das noch alle wirklichen Musiker in bewundernde Euphorie versetzt hat. Wird das auch bei einem breiten Publikum gelingen? Beim Gespräch im Theaterrestaurant zeigt sich Filippo Gorini zuversichtlich. Das ist seine Art, das hilft ihm als Künstler auch über Durststrecken und Misserfolge hinweg. Er weiß, und dabei schwingt nichts Hochmütiges mit, dass sich nicht unbedingt die substanziell beste Musik durchsetzt. Er kennt die Nöte zeitgenössischer Komponisten, und er will künftig noch mehr neu komponierte Stücke spielen.

Am abrupten Ende der unvollendeten Fuge verharrt Gorini wie gelähmt in Spielhaltung

Vielleicht in Kombination mit alten Werken, wie dies der Starpianist Maurizio Pollini schon länger praktiziert. Auch Kompositionsaufträge erwägt er, er ist in engem Austausch mit Komponisten, hat im Januar in Orléans Federico Gardellas "Sonata d'Altura" uraufgeführt. Andererseits hängt er am klassisch-romantischen Repertoire, gewann damit 2015 den Bonner Beethovenwettbewerb, in diesem Jahr den "Premio Abbiati" als bester Solist, und in Frankreich reüssierte er mit Beethovens Diabelli-Variationen und dessen Hammerklavier-Sonate. Seine Herangehensweise gerade an Beethoven, und vielleicht noch mehr an Franz Schubert, klingt manchmal etwas altmodisch deutsch, bedächtig, eingebremst. Schuberts späte B-Dur-Sonate beginnt er beinahe statisch, ganz in sich gekehrt.

Gorini findet in seinem Spiel eine stimmige Balance zwischen Struktur und Emotion. (Foto: Marco Borggreve)

Anstelle dramatischer Entwicklung setzt Gorini oft auf ein expressionistisches Spannungskonzept, das auf hart abgestuften Gegensätzen beruht. Nicht so bei Bach. In seiner ruhig konzentrierten Darbietung der "Kunst der Fuge" im Ludwigsburger Schloss findet er eine stimmige Balance zwischen struktureller Klarheit und emotionaler Verbindlichkeit. Es geht ja in all diesen 14 Kanons und Fugen immer nur um eines: aus einem gesetzten Tonmotiv, dem Soggetto, alle nur erdenklichen Möglichkeiten musikalischer Entwicklung auszuarbeiten. Es ist ein Lehrstück und ein Meditationsstück, das einem im Verlauf der eineinhalb Stunden, die es dauert, immer gigantischer vorkommt und gleichzeitig immer konzentrierter, so wie man sich das Ende eines kollabierenden Sterns vorstellt, von dem dann nur ein schwarzes Loch bleibt.

Vielleicht wollte sich Bach das nicht vorstellen; die letzte "Fuga a tre soggetti" hat er nicht vollendet. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel schrieb in das Autograf, der Verfasser sei an jener Stelle verstorben, an der die Töne b-a-c-h als Motiv auftauchen. Es ist bis heute ein Mysterium, das dem Werk die romantische Aura des Unvollendeten verleiht. Manche Komponisten und Pianisten, zuletzt Daniil Trifonov, haben diese Fuge nach ihren Vorstellungen vollendet. Gorini lässt den Ausgang offen, inszeniert das abrupte Ende als überraschenden Katastrophenfall, verharrt wie gelähmt in Spielhaltung. Das sieht furchtbar aus, aber Filippo Gorini gefällt die Vorstellung, die der ungarische Musikwissenschaftler Zoltán Göncz 1992 ins Spiel brachte: Demnach verweigerte Bach die Vollendung, hinterließ sie als Rätsel und Aufgabe für die Nachwelt. Denn es gebe eigentlich nur eine mögliche Weiterführung, die in eine Quadrupelfuge mündet.

Und doch reizt den Pianisten Gorini die Herausforderung, Bach womöglich auf andere Weise weiterzukomponieren. Er hat die für ihn wichtigsten lebenden Komponisten, György Kurtág und Helmut Lachenmann, gebeten, ihm einen neuen Schluss der "Kunst der Fuge" zu schreiben. Beide lehnten sofort ab mit der Begründung, an diesem Werk gebe es nichts zu verbessern oder zu ergänzen. Vielleicht wollte sich Gorini auch nur rückversichern, denn eigentlich teilt er die Ansicht von Kurtág und Lachenmann. Dafür hat sich der Pianist vorgenommen, das Stück, das ihn nicht mehr loszulassen scheint, auf ganz anderer Ebene weiterleben zu lassen: Er arbeitet an einem Filmprojekt, bei dem er zu jedem der 14 Teile der Kunst der Fuge eine prominente Persönlichkeit aus dem Kulturbetrieb befragt.

Als intellektueller Musiker will er nicht bezeichnet werden - das führe zu Missverständnissen

Nicht nur Musiker wie Alfred Brendel und Steven Isserlis sind dabei, sondern auch der Architekt Frank Gehry und der Regisseur Peter Sellars. Sellars etwa spricht von der heilenden Kraft der Bach'schen Musik und davon, dass man dessen Klänge nie hören könne, ohne an Menschen zu denken, die leiden. Auch Marcus du Sautoy wird dabei sein, der Mathematiker forscht an einem der sieben mathematischen Millenniumsprobleme, einer Theorie für die Verteilung der Primzahlen-Faktoren. Das fasziniert Gorini, er kommt selber aus einer Familie von Naturwissenschaftlern, seine Eltern sind Nuklearphysiker, der Bruder ist Mathematiker.

Dennoch will er nicht als intellektueller Musiker bezeichnet werden. Das führe zu großen Missverständnissen. Von Maurizio Pollini etwa erwarten viele gar kein emotionales oder expressives Spiel mehr, weil er als Intellektueller gilt. Dabei spiele der doch sehr ausdrucksstark und keineswegs kalt berechnend. Aber wie soll man diese Musiker bezeichnen, die grundsätzlich mehr suchen in der Musik als nur Unterhaltung? Die sich für die Konstruktion begeistern und für die Poesie eines Entwicklungsprozesses? Gorini bekommt glänzende Augen, wenn er erzählt, wie sehr die Entwicklung eines musikalischen Meisterwerks der Auffindung eines schlüssigen mathematischen Beweises gleichkommt. Wie überwältigend schließlich das Glücksgefühl ist für den, der die Musik oder den Beweis versteht und aktiv nachvollziehen kann. Das gilt natürlich auch für die Hörer, die sich darum bemühen. Gorinis Begeisterung wirkt dabei ansteckend, auch auf die Jüngeren, wie man in Ludwigsburg erleben konnte.

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