Kleine Favoriten:Wider die Unmenschlichkeit

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Malcolm X analysiert bei einem Vortrag im August 1963 in Harlem den Begriff "Negro". (Foto: © Richard Saunders/Getty Images/© Richard Saunders/Getty Images)

Kunst kommt der Wirklichkeit nicht aus. Das gilt für die Klassik und Gidon Kremer, die Experimentalkünstlerin Beatrice Dillon, das Hörspiel auf der Suche nach Identitäten.

Von SZ-Autoren

Arte-Doku "Rottet die Bestien aus!"

Sind auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit weißer Hautfarbe zur Welt gekommen? Dann herzlichen Glückwunsch zum "ultimativen Privileg", wie der renommierte schwarze Dokumentarfilmer Raoul Peck ("I am not your negro" ) es ausdrückt. In seiner vierteiligen Doku "Rottet die Bestien aus!" legt der gebürtige Haitianer in einer drastischen Erzählung dar, wie ein "simpler Pigmentunterschied" zur "Quelle von Macht" wurde, zum "Merkmal von Überlegenheit", "zur Vollmacht zum Missbrauch". Und wie aus dieser Ideologie einer gott- oder naturgegebenen weißen Vorherrschaft übelste Gewalt und Unmenschlichkeit resultierten, die Knechtung und mutwillige Auslöschung ganzer Völker. Das ist harter Stoff. Man sollte diese schon aufgrund ihres sehr persönlichen Zugriffs außergewöhnliche Doku ( noch bis zum 31. Mai in der Arte-Mediathek) nicht vor dem Zubettgehen sehen, Albträume sind garantiert. Überhaupt setzt sie einem sehr zu, lässt einen an der Humanitas zweifeln.

Peck rollt in seinem lehrreichen filmischen Essay 600 Jahre Kolonialismus, Rassismus und Völkermord auf - nicht historisch-chronologisch, sondern sprunghaft-assoziativ, in der Verwendung seiner Mittel, etwa eines emotionalen Soundtracks, oft auch plakativ, suggestiv, manipulativ. Stets jedoch recherche- und faktenbasiert, belegt mit krassem Bild- und Archivmaterial. Ausgehend vom Genozid an den Indigenen Nordamerikas, der Gründungsbluttat der USA, auf die er immer wieder zurückkommt, springt Peck hin und her zwischen Jahrhunderten, Ländern und Kontinenten - wie ein auktorialer Erzähler, der vor einem Globus sitzt und mit dem Finger mal hierhin, mal dorthin zeigt, erhellende Querbezüge herstellend, das große Ganze beleuchtend. Auch seine eigene Geschichte samt Familienalbum bringt er mit ein: "All in." Neutralität sei für ihn als schwarzer Filmemacher hier "keine Option".

Der Trip des Grauens geht zurück bis zu den Kreuzzügen und führt über die sogenannte Entdeckung Amerikas zu den verheerenden Auswüchsen der europäischen Expansion, der Ausbeutung Afrikas, dem Sklavenhandel, dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und von da weiter zum Holocaust. Peck relativiert den Massenmord an den Juden nicht; er arbeitet nur heraus, dass die Nazis Rassenhass und Völkermord nicht erfunden haben. Die Ideologie war schon in der Welt.

Der brutale Titel "Rottet die Bestien aus!" ist ein Satz aus Joseph Conrads Erzählung "Herz der Finsternis", ein Zitat von vielen, mit denen Peck seine aufwühlende Doku bestückt. Neben Filmausschnitten, animierten Comics, Klischees und Schnipseln aus der Popkultur gibt es auch selbst gedrehte Spielszenen, in denen der Hollywoodschauspieler Josh Hartnett die Arschkarte hat: Er verkörpert den Prototyp des mörderischen weißen Mannes durch die Zeiten. Gleich zu Beginn knallt er eine Frau vom Stamm der Seminolen eiskalt ab. Es ist der Startschuss für einen Dokumentarfilm der Extraklasse. Raoul Peck sagt als Erzähler: "Ich weiß, diese Geschichte ist schmerzhaft. Aber wir müssen sie trotzdem kennen." Unbedingt! Christine Dössel

Gidon Kremers Weinberg

Der Geiger Gidon Kremer setzt sich schon seit Jahren für den polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg ein. (Foto: ecm)

Wie macht das Gidon Kremer? Er streicht eine leere Saite an, und die Zuhörer sind sofort gefesselt, berührt, gleichsam in eine andere Sphäre, ja, Welt versetzt. Was bei anderen neutral-trocken klingt, wirkt bei ihm suggestiv, verwandelnd, herausfordernd neu und unerhört. Gerade in Stücken für Solovioline kann Kremers Kunst der Übertragung seiner forschenden kreativen Fantasie auf die Zuhörer und damit der Entfaltung des Inneren der gespielten Musik magisch bannen. Das gilt natürlich zuerst für den leibhaftigen Auftritt im Konzertsaal. Aber die neue CD (ECM) mit den drei Violin-Solosonaten von Mieczysław Weinberg (1919 - 1996) teilt bei aller gewollten Einsamkeit dieser Musik etwas Essenzielles vom Solisten mit: Gidon Kremer geigt nie mutterseelenallein vor sich hin, sondern er erfüllt diese schmerzliche, manchmal dumpf verhangene, manchmal bis in hysterische Wildheit ausbrechende Musik als kreativen risikobereiten Akt der Selbsterforschung. So zumindest der Eindruck, weil Kremer die Stücke nicht in ihrer Außenansicht präsentiert, sondern so behutsam wie konsequent in ihren Kern eindringt. Für den aufmerksamen Zuhörer wird das zum erregenden Abenteuer.

Weinberg, der der Vernichtung durch die Nazis gerade noch von Warschau aus über Belarus und dann Usbekistan entkommen konnte, bis er durch tatkräftige Unterstützung Dmitri Schostakowitschs nach Moskau gelangte und sich dort als Komponist einen Namen machte, hat erst Jahre später erfahren, dass seine ganze Familie von den Nazis umgebracht worden war. Doch auch in Moskau war er vor antisemitischen Attacken nicht sicher und wurde sogar verhaftet. Erst nach Stalins Tod 1953 konnte er aufatmen, ohne doch noch angemessen als erstrangiger Komponist gewürdigt zu werden. Das geschieht erst seit der posthumen Uraufführung seiner Oper "Die Passagierin" bei den Bregenzer Festspielen 2010. Und auch durch den Einsatz von Kremer und anderen für Weinbergs vielschichtiges Werk. Die 1. Sonate, 1964 geschrieben, wirkt in fünf Sätzen wie ein Parforceritt durch die Extreme der Geige: weit gespreizte Akkorde, rasende Laufpassagen, Pizzikato-Ausbrüche und Riesensprünge zwischen tiefen und hohen Registern, dazwischen kurze lauernde Ruhephasen. Die 2. Sonate von 1967 bildet dagegen eine Art Mosaik aus Fragmenten des Stockens, Zitterns, aus leisen Melodiefetzen, abgebrochenen Linien und wiedergefundenen Bruchstücken davon. Die 3. Sonate von 1979, Weinbergs Vater gewidmet, der ein Theatermusiker war, baut sich ohne Satzunterbrechung zum radikal expressiven Gefühlssturm auf, der am Ende in Pizzikati und entschwindenden Pianissimopartikeln verlischt. Gidon Kremer, der die 3. Sonate 2013 aufnahm, die beiden anderen 2019, vergegenwärtigt diese drei meditativen Ausfahrten ins Alleinsein so kompromisslos, dass sich niemand entziehen kann. Harald Eggebrecht

Pop: Alles wird gut

Metronomy - Things will be fine (Foto: N/A)

Den warmen Klang des Klampfens haben nun auch die Elektropopper von Metronomy entdeckt. Seit mehr als 15 Jahren hatte Bandgründer Joseph Mount mit wechselnden Besetzungen Tracks eingespielt, die aus den Boxen hüpften wie Pingpong-Bälle. Nun, auf Album Nummer sieben, rollen die Briten einen klanglichen Flokatiteppich über der Tanzfläche aus: " Things will be fine" heißt der vorab verfügbare Song der Platte "Small World". In Zeiten dieser nie enden wollenden Pandemie kommt hier eine Versicherung, dass es irgendwann vorbei sein wird, ganz sicher. Für alle, die sich mit dem optimistischen Blick nach vorne schwertun, haben Metronomy ein Video aufgenommen, bei dem eben der Blick nach hinten wärmt: iMacs, Klapphandys und alte Spielkonsolen holen die Zeiten zurück, in denen eh alles fine war. Moritz Baumstieger

Hörspiel: Echos Kammern

Kathrin Angerer ist eine der drei Inkarnationen der Hauptfigur in "Echos Kammern". (Foto: Christian Koch/SWR)

Der Regisseur Leonhard Koppelmann macht aus der einen Hauptfigur drei: Sophonisbe spaltet sich in seiner Hörspielfassung des Romans "Echos Kammern" (SWR 2, Sonntag, 18.20 Uhr) von Iris Hanika auf in Sophie, Phonie und Nisbe. Stephanie Eidt, Valery Tscheplanowa und Kathrin Angerer spielen diese dreieinigen Frauen. Der Roman, im vergangenen Jahr ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, ist eine komplizierte Angelegenheit. Sophonisbe möchte keinesfalls Gefahr laufen, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Aber was ist real an New York und an Berlin, wo sie nacheinander lebt, und was literarische Überschreibung? Was ist echt an ihrem Verhältnis zu Männern und was Projektion? Koppelmann komprimiert diesen Grundkonflikt auf eine hundertminütige Suche nach dem richtigen Standpunkt. Stefan Fischer

Taktvoll: "Tune" im Haus der Kunst

Beatrice Dillon präsentiert an diesem Wochenende ihre Auftragsarbeit "Impossible Ideal Angle" in der "Tune"-Reihe des Münchners Haus der Kunst. (Foto: Alex Kurunis/Haus der Kunst, München)

Der Klang ist die Konstante. Seit dem vergangenen Sommer weht "Tune" durch das Haus der Kunst: eine lose Folge von "Sound Residencies" wie Konzerten, Performances, Künstler-Auftritten und, auch, Installationen. "A Call to Disorder", das Werk, das Lamin Fofana zum Auftakt im kalten, hellen Terrassensaal installiert hat, blieb als einziges bestehen. Jo Penca richtete dann einen Raum im Westflügel her, an diesem Wochenende ist Beatrice Dillon zu Gast, eine Londonerin, deren aktuelles Album afrokaribische Rhythmen mit den Schriften der britischen Farbfeldmalerin Bridget Riley in Verbindung bringt. Am Samstag wird sie nach einem Künstlergespräch gemeinsam mit Eve Stainton ihre Performance "Impossible Angle" aufführen, auch ihre Installation wird für nur drei Tage zu sehen sein. Im März endet die Reihe dann mit Auftritten von Abdullah Miniawy und Justin Urbach. Für das monumentale Haus der Kunst ist das auf Begegnung angelegte Format von "Tune" ein Novum, das mit seinem eigenen Takt eine außergewöhnliche Zeit durchpulst. Catrin Lorch

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