Favorit der Woche:Isaac Stern

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(Foto: Sony)

Von Helmut Mauró

Inzwischen hat man sich so sehr an die Originalklang-Aufnahmen gewöhnt, dass man von den älteren Einspielungen erst einmal arg angefremdelt wird. Plattenaufnahmen aus den Fünfziger- oder Siebzigerjahren, noch analog aufgenommen und auf Vinyl gepresst, nun auf CD umgeschnitten - was soll uns diese Kunst heute bedeuten? Und dann geigt da jemand in einem ermüdend gleichmäßigen Tempo das Adagio aus Mozarts A-Dur-Violinkonzert KV 219, dass man kaum versteht, warum diesem Geiger - es ist Isaac Stern - nun eine komplette Werkedition gewidmet wurde. Wenn man aber noch ein bisschen weiterhört, kommt einem das Tempo gar nicht mehr so unstrukturiert vor, da bilden sich winzige Stauchungen und Dehnungen, aber sie sind halt kein Selbstzweck und fallen nicht so bombastisch aus wie bei heutigen Violinisten. Es ist ein Phänomen, das mit dem oft missbrauchten Schlagwort "Werktreue" nur unzureichend beschrieben ist. Denn wenn es die so absolut gäbe, müssten sehr viele Aufnahmen sehr gleich klingen. Tun sie aber nicht, gerade bei den größten Geigern nicht und auch nicht im Vergleich der so unterschiedlichen Musikerpersönlichkeiten: die Künstlercharaktere spielen bei gelungenen Aufnahmen doch eine entscheidende Rolle. Die grundsätzliche musikalische Auffassung und der besondere Bezug zu einem bestimmten Werk klingen mit. Trotzdem hat man bei diesen alten Aufnahmen in aller Regel das Gefühl, die Musiker folgten einfach nur genau den Noten und erfüllten so möglichst genau den Willen des Komponisten. Und so entstünden die besten Aufnahmen. Aber so ist es nicht, wie man anhand der Edition "Isaac Stern. The Complete Columbia Analogue Recordings" sehr gut erforschen kann. Es verlangt allerdings ein gehöriges Maß an Disziplin und Ausdauer, an technischer Finesse, Kontrolle des Ausdrucks, um genau diesen Eindruck zu erwecken: dass alles vom Komponisten kommt und diesem direkt aus dem Himmel diktiert wird - in gerader Linie vom Herrgott zum Hörer. Ist dies neben der Suche nach historischer, nach aktueller, nach zeitlos gültiger Wahrheit und popkulturell zappeliger Lebendigkeit nicht auch ein legitimes Begehren? Sicherlich. Und dafür gibt es die alten Künstler in den alten Aufnahmen.

© SZ vom 18.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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