Familienverstrickung:Ohne Tränen forschend

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Martin Pollack: Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019. 180 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Im steiermärkisch-slowenischen Grenzgebiet: Wer über Handkes Jugoslawien diskutiert, sollte Martin Pollacks "Die Frau ohne Grab" kennen.

Von Gustav Seibt

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden überall in Osteuropa die deutschsprachigen Bevölkerungen, die dort oft seit dem späten Mittelalter ansässig waren, bedrängt und vertrieben, schließlich planmäßig ausgesiedelt, wenn sie nicht von selbst flohen. Dieser Riesenvorgang war vor allem am Beginn, unmittelbar bei Kriegsende, von zahllosen Übergriffen, Menschenjagden, Internierungen, Vergewaltigungen, wilden Morden und planmäßigen Tötungen begleitet.

Die osteuropäischen Deutschen mussten nun unterschiedslos für die Exzesse der Nationalsozialisten, die Herrenmenschen- und Vernichtungspolitik von SS und Wehrmacht büßen. Es traf alle: Täter, Kollaborateure und Profiteure der Deutschen, aber auch Kinder und Alte, zahllose unschuldige Menschen.

Pauline kam als Siebzigjährige in einem Gefangenenlager slowenischer Partisanen zu Tode

Diese gewaltige ethnische Flurbereinigung beendete im großen Bogen zwischen Ostsee und Balkan ein jahrhundertelanges Zusammenwohnen von Deutschen mit den slawischen Bevölkerungen der Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten. Zu ihrem Ende gelangten dabei auch sogenannte Volkstumskämpfe, die sich erst im Zeitalter des Nationalismus, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem im Habsburgerreich entsponnen hatten und zusammen mit einem rabiaten Antisemitismus dessen letzte Jahrzehnte vergifteten. Martin Pollack, 1944 in Bad Hall in Oberösterreich geboren, Journalist und Dokumentarerzähler, hat nun ein Einzelschicksal aus dieser größeren Geschichte recherchiert, und wieder ging er dabei zurück in die eigene Familiengeschichte.

Schon im Jahr 2004 hatte er in dem Bericht "Der Tote im Bunker" die Geschichte seines eigenen, 1947 zu Tode gekommenen Vaters, der als Mitglied der Gestapo ein Kriegsverbrecher gewesen war, erkundet. Daran schließt nun "Die Frau ohne Grab" an. Dieser "Bericht über meine Tante" erzählt die Geschichte einer Schwester von Pollacks Großvater. Pauline Bast, so ihr Mädchenname, lebte von 1875 bis 1945. Als Siebzigjährige kam sie in einem auf einer Burg eingerichteten Gefangenenlager slowenischer Partisanen unweit ihrer Heimatstadt Tüffer, slowenisch Laško, zu Tode und wurde, soweit man weiß - aber genau weiß man es nicht - in einem Massengrab verscharrt.

Laško liegt in der einst sogenannten Untersteiermark, einem Teil der österreichischen Erblande, der 1919 durch den Versailler Vertrag im Zeichen des Selbstbestimmungsrechts der Völker an das neue Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben kam, zum späteren Jugoslawien also. In diesem Tüffer-Laško lebte eine kleinstädtische deutsch-slowenische Mittelschicht inmitten einer überwiegend slowenischen Landbevölkerung.

Paulines Vaters, Pollacks Urgroßvater, ein Lederfabrikant, war aus dem Rheinland eingewandert und hatte sich bald im ersten Haus am Hauptplatz wohlhäbig-sichtbar niedergelassen. Seine Tochter, Pollacks Großtante, lebte bis zu ihrem Tod in ihrem Vaterhaus. Spät, als Fünfzigjährige, heiratete sie einen slowenischen Mitbürger, den Organisten und Hostienbäcker der örtlichen Gemeinde.

Ihr Leben verlief unauffällig. Aus den wenigen Überlieferungen seiner Familie zeichnet Pollack das Bild einer zurückhaltenden, stillen, womöglich etwas menschenscheuen Kleinstadtdame, geachtet, ja beliebt, eine sanftmütige Frau, die sich aus politischen Fragen heraushielt. Sie teilte offensichtlich nicht den rabiaten deutschen Volkstumsnationalismus, dem ihre gesamte Verwandtschaft, vor allem ihre vier Brüder, anhing. Die todbringende Verschleppung traf eine Unschuldige.

Sie büßte für Ideologien und Untaten anderer, nicht zuletzt ihrer eigenen Familie. Martin Pollack zeichnet beklemmend und präzise eine durch völkische und antisemitische Vorstellungen geprägte Bildungswelt nach, die alle Niederlagen - erst die von 1918 und dann die von 1945 - überlebte. Einer von Pollacks Onkeln, ein Bruder von Pauline, ließ sich noch 1977 die "Protokolle der Weisen von Zion" kommen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war die Familie, deren Männer meist den Notarberuf ausübten, großenteils nach Österreich übergesiedelt, sogar ihren Besitz hatten sie bewahren können. Bis an ihr Lebensende blieben Paulines Brüder überzeugte Nationalsozialisten.

Warum ließ sich Pauline nicht anstecken? Pollacks plausible Vermutung ist: Sie studierte nicht. Die antisemitisch-völkische Imprägnierung der Brüder fand an der Universität statt, vor allem in einer Burschenschaft, die den Lehren des fanatischen Antisemiten Ritter von Schönerer anhing. Das völkische Denken war ein Bildungsphänomen, zugleich stabilisierte es sich in burschenschaftlichen Karrierenetzwerken, die die Männer bis an ihr Lebensende trugen.

Der akademische Nationalismus und Antisemitismus verband sich mit den lokalen Gegebenheiten in der Südsteiermark, wo eine privilegierte, wohlhabende deutsche Oberschicht auf die slowenische Bevölkerung herabsah. Wie sich das dreimal umdrehte, erst im Jahr 1919, dann wieder 1941 und 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges, spiegelt sich in dem kleinen Mehrgenerationenroman, den Pollack Stück für Stück entfaltet. Er zitiert aus alten Zeitungen und Briefen, er zeigt Familienfotos und lässt Zeugen zu Wort kommen.

Von Tante Pauline wurde nie mehr gesprochen, sie blieb im Familiengedächtnis ohne Spur

Der Rassenwahn als Bildungsphänomen findet sein überraschendes Gegenbild in dem Umstand, dass auch in Paulines Familie Eheschließungen nicht nur mit Slowenen, sondern sogar mit einem Juden möglich waren. Ein aus einer solchen Ehe entsprungener Neffe hätte eigentlich als "Mischling" gelten müssen, allein er war Teil der Familie, und sein Halbjudentum spielte gar keine Rolle. Die Ideologie war ein Phantasma, ein zweifellos bösartiges, aber es konnte im Einzelfall einfach ausgeknipst werden. Der mörderische Irrsinn war wirklich nur ein Irrsinn, wenn auch ein höchst wirkmächtiger.

Die stille und etwas rätselhafte Frau ohne Grab, von der nur so wenig bekannt ist, blieb unberührt vom Wahn ihrer Zeit, ihrer Umgebung und ihrer Brüder. Später wurde nie mehr von Tante Pauline gesprochen, berichtet Pollack, sie blieb im Familiengedächtnis ohne Spur. Im Übrigen aber, außerhalb und mit ihrer Ideologie, war diese Familie denkbar normal, ja so, dass Pollack sie mit Erinnerungen an eine glückliche Kindheit verbindet.

Aus diesen Widersprüchen wird ein nicht langes, aber großes, genaues, erschütterndes Buch.

© SZ vom 18.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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