Familiendrama:Flüstern im Nebenzimmer

Lesezeit: 3 Min.

Trauer ist nicht das beherrschende Gefühl: Laia Artigas als Frida. (Foto: Grandfilm Verleih)

"Fridas Sommer", Carla Simóns wunderbarer Debütfilm über ihre Kindheit als Vollwaise.

Von Kathleen Hildebrand

Warum weinst du nicht?" Den ersten Satz dieses Films sagt ein kleiner Junge zu Frida, der später nicht noch einmal auftauchen wird. Er fragt das so kindlich nonchalant, als ginge es um eine Zeichentrickserie, die Frida nicht mag - dabei ist Fridas Mutter gerade gestorben. Und wenn ein Kind seine Mutter verliert, dann hat es zu weinen, das weiß der Junge. Aber Frida weint nicht. An einem Sommerabend des Jahres 1993 steht sie mit ausdruckslosem Gesicht auf einer Straße in Barcelona. Im Hintergrund ist Feuerwerk zu hören, aber Frida ist wie in Trance. Am nächsten Tag wird sie aufs Land gefahren, zur Familie ihres Onkels, wo sie von nun an leben wird.

Das ist ja immer die Frage, wenn Kinder die Hauptrollen spielen - ob der Film sie als Individuen ernst nimmt. Ob er das Kind als komplexen Menschen zeigt oder nur als Projektion der Sehnsüchte und Ängste von Erwachsenen. Als naturverbundene Unschuld wie in vielen "Heidi"-Verfilmungen, als wandelnden Quell naiver Weisheit, zu der die Älteren die Verbindung verloren haben - oder, ins Dunkle gewendet, als fremdartige Horrorfiguren wie die starrenden Gruselkinder in "The Shining". Die besseren Kinderfilme kann man ganz gut daran erkennen, dass sie Erwartungshaltungen gleich mal enttäuschen - wie die vom Weinen nach dem Tod der Mutter.

"Fridas Sommer", der Debüt-Langfilm der katalanischen Regisseurin Carla Simón, vermeidet noch viel mehr dieser Kinderklischees. Weil Simón mit zärtlicher Konsequenz die Perspektive ihrer kleinen Heldin beibehält. Ihr Film ist ein Meisterwerk an Ernsthaftigkeit und genauem, subtilem Erzählen. Auf der Berlinale wurde "Fridas Sommer" voriges Jahr mit dem Preis für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet. Die Regisseurin verarbeitet darin ihre eigene Jugend im Spanien der Neunzigerjahre.

Carla Simóns sechsjährige Protagonistin - die kindliche Version ihrer selbst - ist nicht einfach nur ein zu bemitleidendes Waisenkind, das sich nach dem Tod der Eltern in eine neue Familie einfinden muss. Frida ist störrisch, sie lügt, sie bockt und ist gemein zu ihrer jüngeren Cousine. "Das sind meine Puppen", sagt sie zu ihr, "versprich, dass du sie nie anfassen wirst." Frida weiß nicht, was sie fühlt, kann ihre Trauer nicht ausdrücken. Sie spielt, isst Eis und lacht. Es ist schließlich Sommer.

Wie die junge Schauspielerin Laia Artigas das spielt, ist beeindruckend. Als das Stadtkind seinen ersten Sommertag auf dem Bauernhof verbringt, tippelt sie mit hochgezogenen Schultern zwischen den Hühnerställen hindurch. Da ist Dreck, wo sonst Pflastersteine waren, und Hühnergackern, wo Autos rauschten. Sie wischt sich die dicken Landfliegen vom Arm, die sofort zurückkommen. Frida fremdelt.

Nach und nach wird klar, dass hinter dem Tod von Fridas Mutter eine Geschichte steckt, die in der Familie als schwer erzählbar gilt. Der Name der Krankheit, an der sie starb, wird nie genannt, aber es gibt Hinweise. Der neue Kinderarzt, der ständig Fridas Blutwerte kontrollieren will. Die Mutter einer Spielkameradin, die ihre Tochter panisch von Frida wegzieht, als die sich das Knie aufgeschlagen hat. Und die Mischung aus Trauer und Abfälligkeit, mit der die sehr katholische Großmutter über ihre verlorene Tochter und deren offenbar eher unchristlichen Lebenswandel spricht. Fridas Eltern sind an Aids gestorben.

"Fridas Sommer" spielt am Ende jener politischen Umbruchphase, in der sich Spanien von der Franco-Diktatur zur parlamentarischen Monarchie wandelte. Einer Zeit der Befreiung und des Hedonismus, in der die Gegenkulturen der westlichen Welt in das vormals abgeriegelte Land kamen. Damit einher gingen Partys, ging ein Gefühl großer Freiheit, aber auch eine dramatische Drogenkrise. Carla Simón, die ihre Eltern ebenfalls an Aids verloren hat, schafft es, selbst diesen düsteren zeitgeschichtlichen Hintergrund mit großer Leichtigkeit und ohne auch nur den Hauch von Moralisierung in ihren Film zu integrieren. In einer sehr lustigen kleinen Szene schminkt sich Frida mit grellen Farben, schlüpft in ein Paar viel zu große Cowboystiefel und legt sich eine Federboa um den Hals. Dann fläzt sie in einem Campingstuhl, raucht divaesk eine Schokozigarette und stöhnt rüber zu ihrer Cousine: "Liebling, mein ganzer Körper schmerzt." Imitiert Frida hier das Bohèmeleben und die Krankheit ihrer Mutter? Die Frage der Pietätlosigkeit stellt sich jedenfalls nicht, alles geht auf im Kinderkosmos dieses Mädchens, das versucht, sich die größte Tragödie zu erklären, die einer Sechsjährigen widerfahren kann.

Im Hintergrund dieses wunderbaren Films über einen trägen Sommer scheint immer sanfter, heiterer Jazz zu laufen. Dass das funktioniert, liegt natürlich auch daran, dass Frida weich fällt. Ihre Adoptivfamilie ist liebevoll, die Großeltern sind verrückt nach ihr, niemand bedrängt sie. Die familiären Konflikte hört der Zuschauer, zusammen mit Frida, wie aus dem Off, als Flüstern der Erwachsenen im Nebenzimmer.

Estiu 1993 , ES 2016 - Regie: Carla Simón, Kamera: Santiago Racaj, Schnitt: Didac Palou, Ana Pfaff. Mit: Laia Artigas, Paula Robles, Bruna Cusí, David Verdaguer, Fermi Reixach . Grandfilm, 96 Min.

© SZ vom 26.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: