Familie Mann:Riss mit dem Land

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Thomas Mann mit seiner Ehefrau Katja und Tochter Erika auf der Gangway des Flugzeuges in New York. Viele Tonaufnahmen der Manns entstanden im amerikanischen Exil - fernab von Deutschland. (Collage) (Foto: dpa (M))

"Du spielst deutsche Lieder?" Die Ton- und Filmdokumente der Manns umspannen ein ganzes Zeitalter. Sie machen es möglich, ein großes vaterländisches Gespräch nachzuhören.

Von Gustav Seibt

In Amerika, während des Zweiten Weltkriegs, pflegte Erika Mann ihrem Vater zu den abendlichen Lektürestunden Schallplattenkonzerte zusammenzustellen, und zwar so, dass die Musik aus einem Nebenzimmer kam. Wenn sie ihn besonders berührte, setzte sich Thomas Mann zu seiner Tochter. Einmal hatte sie romantische Lieder ausgesucht. "Du spielst deutsche Lieder?", fragte er verwundert. "Gott segne unsere Waffen." Es waren die amerikanischen Waffen, die Thomas Mann in diesem Moment meinte. So erzählte es Erika 1968 einer Schweizer Reporterin.

Das Gespräch ist Teil einer Sammlung von Ton- und Filmdokumenten des "Zauberers" und seiner Familie, die hier oft nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder zugänglich werden. Sie umspannen das Zeitalter von 1929 bis 2000. Von einem Zeitalter muss man hier reden. Es beginnt fast gleichzeitig mit der Erfindung des Rundfunks und des Tonfilms und es endet mit Elisabeth, der jüngsten Tochter Thomas Mann, die als uraltes Mädchen zur Heldin von Hans Breloers Filmepos zu den Manns wurde. Dabei war Elisabeth schon 1919 eine kleine Heldin gewesen, in der Versidylle "Gesang vom Kindchen".

"Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute."

Wer sich auf die annähernd zwanzig Stunden dieser Sammlung von Reden, Vorträgen und Interviews einlässt, am besten chronologisch, durchquert auch eine Epoche der Weltgeschichte. Denn die Motive berühren und steigern sich. Kurz nach der amerikanischen Schallplattenstunde hielt Thomas Mann zu seinem 70. Geburtstag auf Englisch seine Rede über "Deutschland und die Deutschen" - wir hören Auszüge, steif und diszipliniert in der fremden Sprache das Betriebsgeheimnis von Größe und Untergang darlegend: "Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute." Thomas Mann wollte zunächst nicht zurück in sein Vaterland, ja er bekannte sich immer noch zu dem Hass, den er gegen alles fühlte, was während seiner Abwesenheit in Deutschland geschehen war, und sei es feiges Abseitsstehen. "Deutsche Hörer!", auch diese Kampfreden kann man in Teilen noch einmal hören. Doch dann kam er eben doch, zum Goethe-Jahr 1949, und er "stellte sich".

Wenn eine repräsentative geistige Existenz einen Sinn hat, dann erweist er sich in einem solchen Moment. Und wirklich: Man sollte es hören, nicht nur lesen, wie Thomas Mann, schon merklich fragil, mit höchster Anspannung, aber makellos artikulierend, den Moment in der Frankfurter Paulskirche in Worte fasst. Die Spannung auch im Saal ist fast mit Händen zu greifen, dort sitzt ja überwiegend das daheim gebliebene, mit allen Ambivalenzen der Schuld, Mitschuld, der Leiden gezeichnete Land in seinen führenden Repräsentanten. Der Rundfunk überträgt. Die Bundesrepublik war erst acht Wochen zuvor gegründet worden, alles war unsicher. Und da sprach der größte jener Deutschen, die nicht mitgetan hatten.

"Wie mir zumute ist beim Wiedersehen mit dem Altvertraut-Vergangenen, das mir nach sechzehn von Geschehen überfüllten Jahren wieder Gegenwart und Wirklichkeit wird, - ich versuche gar nicht, es Ihnen anzudeuten", so gleich zu Beginn. "Die Erschütterung wird mir zuteil, die vor mir andere Emigranten beim Wiederbetreten des heimischen Bodens erfuhren, und die ihnen im Bilde von den Gesichtern abzulesen war."

Das ist der Augenblick, um den eigentlich alle diese Reden, Gespräche, Erinnerungen kreisen: der Riss mit Deutschland, der Kampf, die Heimkehr, die Versöhnung. Aus dem großen Drama wurde ein unerschöpflicher Erinnerungsstoff, und wer die Nach- und Neuerzählungen durchhört, erlebt, wie es noch im 20. Jahrhundert möglich war, in einem Epos zu leben.

Das Epos ist gewaltig, aber es entbehrt nicht des Humors. Die Kinder der Manns, sie haben sich in den großen Kampf gegen das Böse auch mit komödiantischer Lust gestürzt, mit diebischem Spaß. Da interviewt Golo Mann als amerikanischer Reporter seine Schwester Erika als "Miss Mann". Klaus Mann besucht den uralten Richard Strauß in Garmisch, der sich über kleinere Einschränkungen inmitten des Weltenbrands beklagt. Erika beobachtet die Gefangenen von Nürnberg in grotesken Anzügen, hektisch Notizen machend. Die älteste Tochter ist, wie sie sagt "ein Aff'", sie lernt Sprachen und Dialekte im Flug, spricht vornehmes British English, redet aber in ihrer parodistischen Radiosendung "Das Wort im Gebirge" auch derbes Bayerisch in zwei Rollen, einem Herrn Roßköderer und einer Frau Motzknödel.

Heitere Überraschungen hier: Es gibt ein "Wort im Gebirge" zu Max Horkheimers Rektoratseinführung in Frankfurt. Eine Sendung zu Thomas Manns 80. Geburtstag thematisiert im komischen Durchgang durchs Lebenswerk bei der erfundenen Novelle "Tod in Weimar" mit gut gespieltem Unverständnis das "Schwüle" der Geschichte: Ein Bub verliebt sich in einen alten Mann, ts, ts; Frau Motzknödel kann nicht folgen.

Ein Rührungshöhepunkt ist die Schiller-Rede, 1955 in Stuttgart und Weimar gehalten

Oder die Ironie: Katia mokiert sich noch vierzig Jahre nach dem Aufruf der Richard-Wagner-Stadt München von 1933, der die Manns aus Deutschland vertrieb, über die Formulierung vom "wertbeständigen Geistesriesen", den Thomas geschändet habe. Wer das lange Radiogespräch von 1958 zwischen Erika Mann und Adorno über die Erfahrungen im Exil durchhört, bekommt auch Einiges zu lachen, wenn Adorno zu einem frühen Max Goldt wird, der mit Alltagsbeobachtungen punktet.

Der zweite Rührungshöhepunkt ist die Schiller-Rede, die Thomas Mann 1955 in Stuttgart und Weimar hielt. Die melodische Begeisterung, mit der er dabei die Distichen über "Das Glück" vorträgt, die er zuvor als Liebeserklärung an Goethe entschlüsselt hatte, schließt die deutsche Wunde. Man muss das zusammennehmen mit dem "Hass", zu dem er sich zehn Jahre davor noch bekannt hatte, um den patriotischen Augenblick in seiner Abgründigkeit zu ermessen.

Dieses riesige Deutschland-Gespräch, das mit seinen Lübecker Rückblicken - 1955 konnte Thomas Mann noch für die Ehrenbürgerwürde in seiner Heimatstadt danken - ein ganzes Jahrhundert umfasst, kommt im richtigen Moment. Es zeigt das gute Deutschland, das um das böse weiß und es darum gerettet hat.

Der Kreis des Zauberers. Thomas Mann und Familie. Herausgegeben von Kurt Kreiler und Robert Galitz. 17 CD und 1 DVD, zusammen ca. 20 Stunden. Der Hörverlag, München 2017. 99 Euro.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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