Event:Zirkus, Punk und Rock'n'Roll

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Ein Himmel wie aus der Bayern-Hymne: Nicht nur Stefan Dettl, dem Frontmann von La Brass Banda, bereitete das am Samstag sehr gute Laune. (Foto: Stephan Rumpf)

Auf dem Königsplatz begann am Wochenende mit Bands von "Kiss" bis "La Brass Banda" die Open-Air-Saison

Von DIRK WAGNER und Andreas Pernpeintner, München

Weil seine Mutter aus Deutschland stammt, seien die Fans auf dem Königsplatz auch seine Familie, erklärt Kiss-Sänger Paul Stanley beim Münchner Abschiedskonzert der 1973 in New York gegründeten Band. Bedenkt man dabei, dass Stanleys Mutter als Jüdin während der Nazi-Diktatur aus ihrer einstigen Heimat fliehen musste, erscheinen seine Worte auf diesem von den Nazis für Aufmärsche missbrauchten Platz am vergangenen Freitag wie eine Geste der Versöhnung.

Eine Geste, die auch der Vorstellung von Rock'n'Roll entspricht, die die markant geschminkten Musiker zelebrieren: Demnach vereint der Rock'n'Roll alle Menschen. Gott habe ihn jedem in die Seele gepflanzt, heißt es entsprechend in "God Gave Rock'n'Roll To You", dem Song, der nach dem bewährten Kiss-Spektakel samt feuerspuckendem Bassisten und Raketen, die aus der Gitarre schießen, zum Ausklang von einem Tonträger zugespielt wird. Gleich einem Choral singen viele Fans den Song mit, der den Rock'n'Roll auch als eine Straße beschreibt. Laut dem Tournee-Namen "The End Of The Road" geht diese aber nun zu Ende.

Wobei die Band sich zum Jahrtausendbeginn schon einmal verabschiedet hatte. Dann machte sie nach gelungener Umbesetzung weiter. Dass fast zwei Jahrzehnte später nahezu dieselben Songs die Karriere der Band Revue passieren lassen wie auf der ersten Abschiedstournee, verdeutlicht allerdings, wie sehr die Band seitdem nur noch als museales Ausstellungsstück fungiert. Eines immerhin, das auch jüngere Zuschauer lockt, die gemeinsam mit den alten Fans auf eine Zeit blicken, in der Kiss die Horrorshow eines Alice Cooper mit den Pop-Harmonien der Beatles zu einem einzigartigen Rock-Zirkus vereinten.

Mit Hebebühnen, Pyrotechnik und einem Drahtseil, an dem der 67-jährige Paul Stanley über die Zuschauer hinweg auf eine weitere Bühne schwebt, lassen Kiss solchen Zirkus noch einmal aufleuchten. Sie sparen dabei auch nicht mit Verbeugungen vor anderen Attraktionen eines solchen Rock'n'Roll-Zirkus. Zum Beispiel zitieren sie den Who-Klassiker "Won't Get Fooled Again". Dabei kopiert Drummer Eric Singer so exakt das wilde Trommeln der Who-Legende Keith Moon, dass spätestens jetzt deutlich wird, wie sehr er den originalen Kiss-Drummer sogar übertrifft, den er seit 1991 abzüglich einer Pause mit ähnlichem Outfit vertritt. Selbst dessen Ballade "Beth" singt Singer am Konzertflügel sitzend mit dem nötigen Schmalz in der Stimme. Und auch der Gitarrist Tommy Thayer, der seit 2002 die Leadgitarre anstelle des ausgeschiedenen Ace Frehley spielt, hat sich mit großartigen Soli so vollendet ins Bandgefüge eingearbeitet, dass die Forderungen einiger Fans, zum Abschied wieder den Original-Gitarristen ins Ensemble zu laden, nicht nur undankbar erscheinen, sondern geradezu unsinnig.

Ob die verbliebenen Bandleader Paul Stanley und Gene Simmons auch noch ersetzbar sind, ist aber anzuzweifeln. Auch, wenn Simmons das in einem Interview nicht ausschloss. Die Vorstellung, sein Lebenswerk könne auch ohne ihn weiter bestehen, gefällt nämlich dem Geschäftsmann, der die Marke Kiss sogar auf eigene Särge anzuwenden weiß.

Der Königsplatz-Samstag ist der erste Sommertag 2019, der Himmel wie aus der Bayernhymne. Für Stefan Dettl, Frontmann von La Brass Banda, einer der Gründe, sich zu bedanken. Dettl dankt allem und jedem, dem Himmel, der Security, dem Bandbus, den Kleinbauern und dem saisonalen Gemüse. Ja, er ist erkennbar aufgekratzt, hier zu spielen, vor 20 000 Menschen. Und dieses Gefühl vermittelt am frühen Abend auch das Münchner Punkrock-Duo Da Rocka & Da Waitler, das das Festival mit Gitarre, Quetschn und dem klugen Motto "Geh ma steil!" eröffnet.

Ähnlich subtil geht es bei Turbobier zu. Kurz verwirrt die Band aus Wien-Simmering mit Reggae, dann holt sie die vier Akkorde und Taktzählzeiten hervor, die es für ihren Austro-Punk braucht. Recht so. Dass die Musiker als Gründer der "Bierpartei Österreichs BPÖ" (stimmt wirklich) dabei auch erhabene Botschaften platzieren ("ein kleiner Schluck für mich, ein großer Schluck für die Menschheit"), ist beste Punktradition. Mehr Musikkritik haben Seiler & Speer mit ihrer grandiosen Begleitband verdient. Die Arrangements sind ausgefeilt und prägnant zugleich. Das trägt Seiler & Speer durch Reggae, Balladen, Rap, Rock - und Christopher Seilers Aussage, "Wir machen nur die Gassenhauer, weil kulturell Wertvolles spielen wir gar nicht", kann man selbst beim Song "Ob und zua (Samma zua)" getrost ignorieren.

Dann steht Stefan Dettl am Mikrofon. Die Sonne geht unter, der Königsplatz wird bunt, und La Brass Banda lassen ihre halsbrecherische Musik von der Leine. Was soll man sagen: Wie virtuos das ist? Wie unfassbar, dass die sieben Musiker mit ihrem Lippenansatz und die restlichen 20 000 mit ihrem Körpereinsatz diese Intensität durchstehen? Dass Dettl gut daran tut, den Trompetenpart mit zwei Kollegen zu teilen, damit er sich auf seine Rolle als Dettl fokussieren kann? Dass man von ihm, sobald er ins Mikrofon dettlt, wenig versteht, was aber völlig egal ist? Das ist alles bekannt - und deshalb nicht minder bemerkenswert. Wobei, dieses Wort sollte einem Moment vorbehalten bleiben: Für den Song "Freestyle Solo" bringt Dettl dem Publikum eine Choreografie bei. Acht Schritte nach links, acht nach rechts und dann - Freestyle! 20 000 marschieren synchron mit. Und wenn man wieder einmal darüber nachdenkt, welche Aufmärsche dieser Platz einst zur Nazizeit erlebt hat, dann gefällt einem dieser riesige Bavarian-Gypsy-Brass-Volkstanz im bunten Licht gleich noch viel besser.

© SZ vom 03.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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