Europäische Moderne:Ein Jedermann

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Mögliche Untergänge fest im Blick: Georges Simenon in Mailand im Dezember 1957. (Foto: picture-alliance / Leemage)

Enzyklopädie des Scheiterns: Der Kampa Verlag bringt eine neue Gesamtausgabe des Werkes von Georges Simenon heraus, mit Neuübersetzungen und Nachworten prominenter Autoren.

Von Alex Rühle

Parbleu. 23 Bücher auf einmal. Wo soll man da beginnen? Vielleicht in diesem Linienbus, der 1941 durch die französische Provinz fährt. Vierzig Frauen sitzen darin, sie alle kommen vom Markt, bepackt mit Körben und Tieren. Ein Mädchen quasselt auf den Fahrer ein, Dorftratsch und Gerüchte. Der Bus kommt an einem Mann vorbei, der läuft "wie einer, der kein Ziel hat und nichts denkt. Er hatte kein Gepäck, keine Pakete, keinen Spazierstock, nicht einmal einen Stecken. Seine Arme schwangen frei". Als der Busfahrer anhält und ihn fragt, wo er hinwolle, antwortet der Mann: "Ganz gleich. Wohin fahren Sie?"

Ein Mann ohne Eigenschaften. Fürs Erste namenlos. Ohne Herkunft, Ziel, Gepäck. Ein Jedermann. Und insofern der prototypische Held eines Romans von Georges Simenon, schließlich hat dieser hyperproduktive Autor mal auf die Frage, was ihn beim Schreiben antreibe, geantwortet, er sei immer nur auf der Suche "nach dem, was bei allen Menschen gleich ist".

Man könnte natürlich auch ganz klassisch anfangen, mit seiner berühmtesten Figur, Kommissar Maigret, diesem Vollblut-Osmotiker. In so gut wie jedem der 75 Maigret-Krimis gibt es diesen Moment, in dem der Kommissar zu einer Art Medium wird, sich dämmernd gehen lässt, hinübertritt in ein Stadium des gedanklichen Schlenderns, um sich demjenigen anzuverwandeln, dem er gerade auf den Fersen ist: "Er machte die Augen zu und sah die Ecke der Rue Sainte-Catherine; er war nicht mehr Maigret, er war der Ministrant, der jeden Morgen denselben Weg zurücklegte und vor sich hinsprach, um sich Mut zu machen."

Maigret wurde oft als Simenons Alter Ego bezeichnet. Das stimmt nur insofern, als Simenon an seine Bücher ähnlich mimetisch heranging wie Maigret an seine Verdächtigen. Er schrieb in einem "Zustand der Gnade", wie er das selber mal nannte, einem Zustand, in dem er in die Haut eines anderen Menschen zu schlüpfen vermochte: "Ich neutralisiere mich, vergesse mein eigenes Ich", schrieb er an André Gide, für den er der wichtigste Autor des zwanzigsten Jahrhunderts war. Gide, der Simenon wegen seiner triebhaften Schöpferkraft verehrte und vom Makel des Unterhaltungsschriftstellers befreien wollte, Gide, der so oft an "akuter Simenonitis erkrankte und dann fünf, elf Ihrer Bücher" verschlang. Gide, der ihn zugleich über Jahre drängte, endlich den "wahren" Roman zu schreiben, das eine große Werk. Kann man alles nachlesen im Briefwechsel zwischen den beiden Autoren, den der Diogenes-Verlag Anfang der Neunzigerjahre herausgebracht hat.

Maigret gehört zu Simenon wie dessen deutsche Übersetzungen zu Diogenes. Vierzig Jahre lang hat der Zürcher Verlag die Werke Simenons verlegt, mehr als 220 Bücher herausgegeben, sechs Millionen Exemplare verkauft. Diogenes hatte Gides Diktum vom Großautor immer ernst genommen und Simenon mit schweizerischer Präzision weitaus gründlicher gepflegt, übersetzt und ediert als dessen Pariser Stammverlag, der die Bücher eher lieblos raushaute. Plötzlich, im Sommer 2016, konnten deutsche Buchhändler dann aber einige Werke nicht mehr aus Zürich nachbestellen. "Vergriffen", hieß es schmallippig. Voriges Jahr dann die überraschende Nachricht, der ehemalige Diogenes-Lektor Daniel Kampa mache einen eigenen, kleinen Verlag auf - und werde das riesige Gesamtwerk dort neu herausbringen. Kann gar nicht gutgehen, unkten viele.

Jetzt ist es so weit. Der Kampa-Verlag startet die Neuausgabe. Und lässt sich von Anfang an nicht lumpen: 23 Bücher auf einmal. Davon zwölf Maigrets, mehrere davon neu übersetzt. Als philologische Dreingabe ein Band mit vier Erzählungen um G 7, einen Pariser Kommissar, der 1927 in Paris ermittelt, Maigret schon stark ähnelt - und den deutsche Leser nie zuvor haben kennenlernen dürfen.

Außerdem, und hier wird es nun wirklich interessant, erscheinen in diesem ersten Schwung neun "Romans durs", wie Simenon selbst seine "Non-Maigrets" nannte, von denen er circa 120 geschrieben hat. Für die Neuausgabe dieser Werke hat sich der Kampa-Verlag mit Hoffmann und Campe zusammengetan - Daniel Kampa war zwischen seinem Weggang bei Diogenes und der Neugründung des eigenen Verlags dort vier Jahre lang Verleger. All diese Bücher werden neu ediert, jeweils mit Nachworten so illustrer wie bewundernder Autorenkollegen versehen, erscheinen im Hardcover und kosten jeweils um die 20 Euro. Wenn die erste Lieferung nicht täuscht, dann geht es Kampa gerade mit diesen "harten Romanen" auch darum zu zeigen, dass Gide sich getäuscht hat: Es hat sie immer gegeben, die "wahren", großen Meisterwerke.

Gide, um ihn ein letztes Mal zu bemühen, nannte Simenon einmal "den Balzac des 20. Jahrhunderts". Simenon protestierte. Balzac habe ja immer den "homme habillé" gezeigt, den angezogenen Mensch in seinem gesellschaftlichen Korsett. Ihm aber gehe es um den "homme nu", den nackten Menschen. Und damit zurück in den Bus, auf die Landstraße. Der Namenlose steigt ein, und da steht im Gang diese ältere Frau. Die beiden taxieren einander im Gedränge, und "ein wenig war es, als hätten sie einander zwischen all den Marktweibern mit den ruckelnden Köpfen erkannt".

Als hätten sie einander erkannt - das klingt nun fast biblisch. Auf jeden Fall schicksalhaft. Und man ahnt schon hier, auf der dritten Seite, dass diese beiden Menschen soeben auf die schiefe Ebene geraten sind, auf der im Grunde alle Figuren Simenons von Beginn an stehen. Etwas Marginales passiert - und bringt ein ganzes Leben ins Rutschen. Der Rest ist grausame Physik, Trägheitsgesetze, so gnadenlos wie unveränderbar. Simenons Werk ist eine riesige Enzyklopädie des Scheiterns.

Die Busszene ist der Anfang des Romans "Die Witwe Couderc", der erstmals 1942 erschien, zur Zeit der deutschen Besatzung. Der Krieg taucht hier mit keinem Wort auf, aber in dem Bus sitzen eingangs ausnahmslos Frauen - jeder zeitgenössische Leser wusste, wie viele Männer zu dem Zeitpunkt in Kriegsgefangenschaft oder untergetaucht waren. Vor allem aber lastet auf dem Buch eine drückende Atmosphäre aus Missgunst, Angst und quälendem Fatalismus.

Man ahnt, als die Witwe Couderc den jungen Mann mit nach Hause nimmt, dass das ein tödlicher Fehler ist. Schlimmer noch: Der Mann ahnt es selbst, er wirkt wie gelähmt "in Erwartung des unausweichlichen Unheils". Paul Theroux sieht wegen dieser Unausweichlichkeit in der "Witwe Couderc" im Nachwort ein existenzialistisches Meisterwerk (das Buch erschien im selben Jahr wie Camus' "Der Fremde" und hier wie dort geschieht ein absurder Mord) und eine meisterhafte Parabel auf ein Land unter Besatzung.

Nun ist es immer leicht, im Nachhinein politische Hellsichtigkeit in irgendwelche Texte hineinzudeuten. Liest man "Die Witwe Couderc" aber gemeinsam mit zwei der anderen neu edierten "Romans durs", dann kann man tatsächlich über die harte soziologische Klarsichtigkeit Simenons nur staunen. "Chez Krull" erschien 1938, nur wenige Wochen vor den Novemberpogromen im Nachbarland. Bei Simenon ist es keine jüdische, sondern eine deutsche Familie, die nach und nach ausgeschlossen wird aus der französischen Gesellschaft, die Krulls, die am äußersten Rande einer Kleinstadt leben, ängstlich darum bemüht, nicht aufzufallen, und die langsam aber sicher in den Verdacht geraten, etwas mit einem Mord zu tun zu haben. Erst werden sie gemieden, dann offen schikaniert und am Ende steht der Mob vor ihrem Haus, über 40 Seiten hin, und will seine Rache.

"Der Schnee war schmutzig", geschrieben 1948, spielt in einem namenlosen Land, das unter Fremdherrschaft steht. Ein Klima der Angst und Armut, ein junger Mann wird zum Mörder, das Ganze ist kein Krimi, man weiß, wer es war, ja die Morde passieren so en passant, dass sie nicht mal beschrieben werden. Ein Buch über Verrohung und Verantwortungslosigkeit, und insofern eine aggressive Abrechnung mit der kollektiven, narzisstischen Resistance-Erzählung. Simenon war nach dem Krieg regelrecht angeekelt von de Gaulles nationaler Lebenslüge, Frankreich habe gegen die Nazis gewonnen. Er war vielmehr davon überzeugt, dass die Franzosen "ganz und gar besiegt worden waren, genau wie die Deutschen", wie er einmal sagte. Durch Feigheit, Opportunismus, Misstrauen.

Schon indem Kampa für den Start der Neuausgabe aus dem Riesenkorpus eine Art existenzialistisches Kriegs-Triptychon herausschält, kann man erkennen, mit welch souveräner Sorgfalt dieses Großprojekt angegangen wird. Dennoch wäre es natürlich Blödsinn, nun Simenon als politischen Autor umdeuten zu wollen.

Was hier nämlich viel zu kurz kam: die Beschreibungskunst Simenons, der die klamme Ödnis Nordfrankreichs, die dunkle Enge im Haus der Witwe Couderc oder das flirrende Sonnenlicht in einer Pappelallee mit wenigen Worten so eindringlich skizziert, dass man glaubt, sie spüren und sehen zu können. "Die Erinnerungen, die jetzt Teil meiner Existenz sind, das sind die Strahlen der Sonne, der Geschmack von Eis", schreibt er, kurz bevor er am 4. September 1989 stirbt. "Der Metzger, der in riesige Fleischstücke schneidet. Fisch, der auf großen Platten liegt. Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt habe, dann, dass all das gut und wichtig ist."

Das Grausamste am Werk Simenons ist aber die Erkenntnis, dass er selbst in existenzieller Hinsicht am Ende ähnlich qualvoll gescheitert ist wie seine Figuren. Er, der sich aus einfachsten Verhältnissen herausgearbeitet hatte, der zwischendurch Schlösser besaß, Rennwagen und einen Privatzoo, der sich brüstete, mit 10 000 Frauen geschlafen zu haben, saß in den letzten Lebensjahren einsam in einem kleinen Haus und schrieb nicht enden wollende Erinnerungen, die alle nur um einen Schmerz kreisten, den Suizid seiner einzigen Tochter.

Auch diese qualvoll "Intimen Memoiren" kann man jetzt erstmals ungekürzt lesen, auf 1173 Seiten (Hoffmann und Campe). Man muss sich aber beeilen damit, im Frühjahr erscheinen bereits die nächsten 25 Simenon-Bände.

© SZ vom 24.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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