Erich-Kästner-Schau:Der Doppelgänger

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Die Ausstellung "Gestatten, Kästner" im Münchner Literaturhaus zeigt den Lieblingsmoralisten der Deutschen in seiner ganzen Zerrissenheit - und macht ihn gerade dadurch wieder interessant.

Von Hilmar Klute

Wenn sich Leser, vorzüglich deutschsprachige, einen idealen Schriftsteller zurechtbasteln und mit den Premiumqualitäten Verständlichkeit, Sympathie und moralische Integrität ausstaffieren dürften, dann käme mit großer Wahrscheinlichkeit Erich Kästner dabei heraus. Dieser Autor bietet feinstes Futter für alle Lebensphasen - seine turbulenten Kinderbücher erklären den Kleinen, dass man unangepasst und mit burschikosem Frechsein besser fährt als mit der Kreuzbravheit der Gehorsamen; seine Gedichte lassen uns staunen, wie poetisch und wahrhaftig ein aufgeräumter Kopf die Wirklichkeit in empfindsame und gleichzeitig politisch relevante Literatur verwandeln kann; sein Roman "Fabian" lässt uns wissen, wie schwierig es ist, in einer Welt der Verführungen, erotischer wie politischer, unbefleckt zu bleiben, und aus seinen Stücken wie der "Schule der Diktatoren" reckt sich uns der mahnende Wehret-den-Anfängen-Finger entgegen.

Erich Kästner scheint auf den ersten Blick den Typus eines modernen, aufgeklärten und trotz seiner Hemdsärmeligkeit doch unantastbaren Schriftstellers zu verkörpern. Einer, der den Nazis widerstanden hat, sogar im Reich geblieben ist, um später von dort Zeugenschaft ablegen zu können - eine Version, welche Kästner selbst verbreitet hat und die, aber das ist keine allzu neue Erkenntnis mehr, kaum haltbar ist. Spätestens seit der Germanist Stefan Neuhaus seine Studie über Kästners umfangreiche Arbeiten für Film und Theater im Dritten Reich vorgelegt hat, weiß man: Erich Kästner, der Moralist und Nazi-Gegner, hat in diesen Jahren viele Kompromisse gemacht und damit ein großzügiges Auskommen in Hitlers Kulturindustrie gefunden.

Natürlich bleiben auch diese biografischen Unreinheiten Erich Kästners in der großen Ausstellung im Münchner Literaturhaus nicht unerwähnt. Sie werden allerdings sehr diskret abgehandelt mit dem Motiv des Doppelgängers - die Metapher schleicht ja besonders durch seine Arbeiten nach 1933. Erich Kästner erscheint in dieser klug kuratierten Werk-und Lebensschau unter einem feinen Firnis, der den Autor vor allzu dringlichen Nachstellungen schützen soll. Andererseits ist die Zurückhaltung auch wieder angemessen, denn Kästner trug während der Nazi-Zeit eine Art Autoren-Tarnkappe - man weiß, dass er an vielen Produktionen mitgewirkt hat, aber nicht genau, an welchen. Und man weiß freilich auch, dass Kästner selbst in seinen späten Jahren mit Grausen auf seine zwiespältige Rolle im Deutschland dieser zwölf Jahre zurückblickte.

Die betont indiskrete Extravaganz war die Visitenkarte des jungen Schriftstellers

Die Münchner Ausstellung spiegelt - wie alle guten Literatur-Darstellungen - den Schriftsteller in den jeweiligen Verhältnissen seiner Lebensstationen. Heute tut man dies - den gegenwärtigen Seh- und Verständnisgewohnheiten gemäß - mit multimedialen Mitteln. Historische Filmaufnahmen zitieren das Großstadtgetriebe der Jahrhundertwende sowie der Zwanzigerjahre und der Nachkriegszeit: Berlin, die Stadt, in der Kästner groß und erfolgreich wurde; München, wohin er 1945 zog und wo er 1974 starb. Und natürlich Dresden, wo er am 23. Februar 1899 geboren wurde, in wenn nicht prekäre, so doch sehr einfache Verhältnisse hinein. Zur Mutter unterhielt Kästner ein ungewöhnlich intensives Verhältnis, von dem die nach seinem Tod veröffentlichten "Muttchen"-Briefe zeugen; dass Kästner einen Ödipuskomplex mit sich herumgetragen habe, dürfte dagegen nicht viel mehr als die verkniffene Fantasie von Küchenpsychologen sein. Sie verflüchtigt sich auch angesichts der beeindruckenden Zahl von Kästners Liebesbeziehungen, Zwischendurch-Affären und sexuellen Eskapaden - die betont indiskret gehandhabte Extravaganz war Kästners gesellschaftliche Visitenkarte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren.

Die Zeit bis dahin nutzte Erich Kästner damit, sich als auf vielen Feldern ackernder Autor zu formatieren: Er schrieb Kulturkorrespondenzen für die Neue Leipziger Zeitung, veröffentlichte Gedichte und Satiren, probierte Grenzüberschreitungen aus, wurde gefeuert, wieder eingestellt und innerhalb kurzer Zeit zu einem rasend schreibenden und publizierenden Literaten. Seine erste große Liebe, Ilse Julius, lernte Kästner während seines Germanistik-Studiums in Leipzig kennen - eine langjährige Beziehung ohne Trauschein, damals eine sportlich-moderne Sache. Als die Verbindung zu Ende ging, hatte er immerhin den Stoff für eines seiner berühmtesten Gedichte, die "Sachliche Romanze".

Die Kuratorinnen Karolina Kühn und Laura Mokrohs haben für ihre Ausstellung neues Nachlassmaterial im Deutschen Literatur Archiv in Marbach gesichtet. Es sind Dokumente, die aus dem Besitz von Kästners Sohn Thomas stammen und die eine bemerkenswerte Seite des Doppelgängers Erich Kästner beleuchten. Während er im Dritten Reich die Unterhaltungsindustrie bediente, schrieb Kästner Skizzen für die Schublade. Es sind erschrockene Selbstbefragungen eines Mannes, der spürt, dass er dabei ist, seine Integrität als moralisch gefasster Zeitzeuge an die Machthaber zu verlieren: "Er war tot und lebte weiter", schreibt Kästner. "Und eine über und über weißblühende Azalee war statt seiner mit Gottes Hilfe und mit Hilfe einer kolloiden Lösung in wenigen Minuten verwelkt und gestorben." Und jenen großen Zeitroman, den zu schreiben er versprochen hatte und der seinen Aufenthalt im Nazi-Reich legitimieren sollte? Kästner schrieb ihn nicht. Stattdessen sammelte er Material, Zeitungsausschnitte zum Thema "Doppelgänger" - der Spagat muss ihn damals schon partiell gelähmt haben. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat ihn das Bewusstsein, sich verbogen zu haben - im Gespann mit unauflösbaren Beziehungsverstrickungen, Alkohol und Krankheiten - geradezu versteinern lassen.

Nach dem Krieg feierte man ihn als Mann von gestern, den die Mädchen auf die Wange küssen

Wie Kästner versucht hat, der jungen Bundesrepublik beizubringen, sich gegenüber den Verführungen eines totalitären Regimes immun zu machen, zeigen seine Auftritte gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung - seine berühmte Rede an der Feldherrenhalle ist im Film festgehalten. Von dem scharfen lyrischen Pulsmesser Kästner, dem in wilden Allegorien fantasierenden Realisten, dem witzig-aggressiven Poeten blieb in den Nachkriegsjahren kaum etwas übrig. Man feierte ihn als einen Mann von gestern, ehrte ihn mit dem Büchner-Preis und verehrte ihn als onkelhaften Erzähler, den kleine Mädchen auf die Wange küssen.

Erich Kästner hat selbst einiges dazu beigetragen, dass sein Bild allzu griffig und eindimensional erscheint - als pfiffiger Skeptiker, der bei allem, was er sagt und schreibt, ein Auge zukneift. Dass er am Abgrund geschrieben, zeitweise mit den Teufeln an einem Tisch gesessen und eben nicht mit blütenweißer Weste aus dem Schlamm der Geschichte auferstanden ist - all dies macht ihn eigentlich erst zu einem interessanten und immer noch lesenswerten Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts.

"Gestatten, Kästner!" Bis 14. Februar 2016 im Literaturhaus München.

© SZ vom 25.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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