Erfolgsliteratur aus der Schweiz:Der Schmetterling kann nichts dafür

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Unter dem Namen Pascal Mercier betätigt sich der Schweizer Philosophieprofessor Peter Bieri als Erfolgsautor. Sein neuer Roman "Das Gewicht der Worte" handelt von der Macht der Sprache. Daran muss man ihn messen.

Von Franziska Augstein

Auf die Handlung kommt es in "Das Gewicht der Worte" nicht an. Anfang und Ende des Buches dürfen deshalb kurz zusammengefasst werden: Der aus England gebürtige Simon Leyland ist versessen auf Wörter. Er beherrscht viele Sprachen. Weil er Sprachen liebt, wird er von Beruf Übersetzer. Seine Frau ist bei einem Unfall gestorben, weshalb er ihren Verlag in Triest übernommen hat. Er leidet an schweren Migräneanfällen. Einmal kippt er um, wird ins Krankenhaus gebracht, wo man ihm mitteilt, dass er an einem Hirntumor leide und nur noch wenige Monate zu leben habe. Daraufhin verkauft er den Verlag. Kurz danach stellt sich indes heraus, dass Patientenakten vertauscht wurden, er hat keinen Hirntumor, er ist bloß geschlagen mit seiner Migräne. Das ist umwerfend für ihn und seine zwei Kinder. Selbstverständlich tauchen noch mehr Figuren auf, die sich alle - bis hin zum letzten Arbeitslosen - vor allem für Sprache, für Bücher, für deren grafische Ausstattung und für das Verlagswesen interessieren. Sie sind Funktionswesen in diesem Roman, Personen ohne Belang und Kontur.

Pascal Mercier, dies das Alias des in Berlin Philosophie lehrenden Peter Bieri, ist mit dem Roman "Perlmanns Schweigen" (1995) bekannt geworden. Das Buch handelt von einem Mann, dessen Frau bei einem Unfall (siehe oben) zu Tode kam. In der SZ war damals zu lesen, Perlmann schwanke zwischen "Selbstbezichtigung und Satire", der Roman sei "kurzweilig". "Perlmanns Schweigen" fand sein Publikum, und Mercier gilt seither als bedeutender Autor. "Das Gewicht der Worte" wiederholt manches, was "Perlmanns Schweigen" erfolgreich machte.

Weil Pascal Mercier in diesem Roman so großen Wert auf Sprache legt, soll er daran gemessen werden. Sein Protagonist Simon Leyland wird als glanzvoller Übersetzer vorgestellt. Folgende Übersetzung von Leyland - einerlei wie das Original lautet, das zitiert wird - klingt aber holprig. Gute Übersetzer würden so hölzern nicht schreiben: "Es ist einfach etwas, was einen Augenblick festhält, und dann vergisst man diese Zeit nicht ..."

Merciers Roman liest sich oft wie holprig übersetzt. Wäre das ein Stilmittel, wäre es genial

Merciers Roman liest sich leider oftmals wie holprig übersetzt. Wäre das ein Stilmittel für die Redeweise einer Figur, es wäre kunstvoll. Dagegen spricht, dass Mercier neben seine Erzählerstimme lauter Briefe von Simon Leyland und anderen in Kursivschrift stellt, die alle in demselben Duktus verfasst sind und alles erklären wie für Idioten. Zuerst wird aus Leylands Perspektive sein Zustand geschildert, und dann, als ob die Leser es nicht kapiert hätten, folgt eine ähnliche Schilderung in einem Brief, den Leyland an seine tote Frau schreibt. Zudem ist der Autor ziemlich fantasielos, was Wörter angeht.

Leyland, Kind polyglotter Eltern und angeblich ein Liebhaber von Sprachen, teilt mit, "dass Worte den Gefühlen nicht äußerlich waren, auch nicht einfach Ausdruck von ihnen in einem plumpen Sinne, sondern dass die Gefühle in ihnen waren, direkt in ihnen, und sich in ihrem Klang offenbarten". Das würde bedeuten, dass eine eher harte Sprache wie das Deutsche für die Formulierung sanfter Gefühle weniger als andere geeignet sei. Soll man das glauben? Ähnlich sinnlos wäre die Bemerkung, ein Buchautor sei mit einer enervierten Rezensentin immer noch besser bedient als mit einer enttäuschten. Am Ende kommt es auf diese Unterscheidung nicht an, sondern darauf, was in der Zeitung zu stehen kommt. Und am Ende ist es nicht der Klang der Wörter, in dem Gefühle sich offenbaren, sondern die Wahl der Wörter und wie sie intoniert werden.

Etwas anderes ist es, dass der Klang eines Wortes tatsächlich mal besser und mal schlechter zu seinem Gegenstand passt. Das klassische Beispiel dafür ist der Schmetterling, dessen Benamung einem zarten Flatterwesen Unrecht tut, das auf Italienisch melodisch farfalla heißt. Dafür kann das arme Wort Schmetterling, das an schmettern erinnert, nichts: Sprachgeschichtlich ist es mit dem tschechischen smetana verwandt, das klingt viel weicher und bedeutet Sahne.

Das Gleiche gilt für die Sprache der Erotik. Viele deutsche Liebespaare scheuen im Bett zurück vor den konsonantenreichen zuständigen Begriffen. Eines der grässlichsten unter allen deutschen Wörtern ist Brustwarze. Selbst wenn man noch bekleidet ist, klingt das englische "member" netter als das deutsche "Glied". Aber auch dieses Thema - an sich ein naheliegendes für Merciers Roman - hat der Autor ausgelassen. Leylands Sohn Sidney leidet an Asthma, ohne dass das in der Geschichte relevant würde, sein Krankheitszustand soll dieser unbedeutenden Nebenfigur bloß Bedeutung geben. Einmal, beim TV-Glotzen, beschreibt Sidney die Show als "bonbonfarbengrell". Der Erzähler Mercier scheint mit diesem Einfall sehr zufrieden: Vater und Sohn, schreibt er, "lachten über das gelungene Wort", über "die Wortschöpfung". Hätte nicht irgendjemand dem Philosophieprofessor Bieri vor Publikation seines Romans mitteilen können, dass "bonbonfarbengrell" nicht besonders originell ist?

Simon Leyland ist derart mit sich selbst befasst, dass sein Schicksal keiner mehr mitfühlen kann

Merciers Protagonist Simon Leyland hat als junger Mann oft seinen Professor in London besucht, dem er versicherte, er wolle alle Sprachen lernen, die ums Mittelmeer gesprochen werden. Das fand der Professor so ungewöhnlich vielversprechend, dass er Leyland sein Haus vererbt hat. Zu Beginn des Romans sitzt Leyland in diesem Haus und leidet, wie fast alle Figuren in diesem Roman, unter Selbstzweifeln. Auf Seite 20 ist er unsicher: "Warum bloß hatte er geglaubt, in diesem Haus, das ja trotz aller Besuche ein fremdes Haus geblieben war, Klarheit über sein weiteres Leben gewinnen zu können?" Auf Seite 32 steht ein Brief von Leyland an seine Kinder: "... hatte ich oft das Bedürfnis, mit mir selbst zu sprechen und mir in ausdrücklicher Form darüber klar zu werden, was ich dachte, fühlte und wollte ..." Auf Seite 36 wird aus Leylands Perspektive geschrieben, er sei nicht sicher, ob das ererbte Haus "der richtige Ort sein könnte, um Klarheit über sein weiteres Leben zu gewinnen". Um es ganz klar zu sagen: Nachdem man dreimal binnen 15 Seiten erfahren hat, wie sehr es dem Protagonisten um "Klarheit" geht, ist man an dieser Frage nicht mehr sonderlich interessiert.

Auf den folgenden mehr als 500 Seiten bleibt es dabei: Simon Leyland ist dermaßen mit sich selbst befasst, dass die Leser ziemlich bald sein Schicksal nicht mehr mitfühlen können. Seine Gedanken kreisen um die vertauschten Patientenakten, darum, dass er den Arzt beschied, er lege keinen Wert auf die Aushändigung der Bilder seines gescannten Gehirns samt Bewertung. Seine beiden Kinder, jedes für sich, fühlen sich schuldig, weil auch sie versäumt haben, um die Bilder zu bitten.

Eine Frau, eine Autorin, sagt in Pascal Merciers Roman über ihre Bücher: "Man verbringt ein ganzes Stück seines Lebens mit ihnen, das Leben in solchen Zeiten ist ein Leben durch die Bücher hindurch, das Schreiben ist die eigentliche Lebendigkeit des Lebens. Ich habe mich zu erinnern versucht, wie es war, das eigene Buch im Schaufenster zu sehen: War es Stolz oder eher Beklommenheit?" Der englische Schriftsteller Robert Macfarlane hat geschrieben: "Manchmal ist das Einzige, was uns vom Lesen eines Buches bleibt, eine Papierschnittwunde." An diesem Buch schneidet man sich nicht einmal.

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. Roman. Hanser Verlag, München 2020. 576 Seiten, 26 Euro.

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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