Den Georg-Büchner-Preis erhält in diesem Jahr die 82-jährige Elke Erb. Die Entscheidung ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung sich mutig verjüngt hat. Elke Erb wird von ihren Generationsgenossen zwar seit jeher geachtet. Intensiv gelesen aber wird sie heute vor allem von den 30-, 40-, auch 50-Jährigen. Für Dichterinnen und Dichter wie Nico Bleutge und Monika Rinck, Steffen Popp oder Marcel Beyer ist die Art und Weise, wie Erb in ihrer Lyrik Reflexion und konkrete Anschauung, wie sie Gegenwartsbeobachtung und Erinnerungsarbeit miteinander verbindet, zum Maßstab geworden.
Geboren wurde Elke Erb 1938 in der Eifel. Der Vater war im Krieg, und als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, kehrte er nicht in das kleine Dorf im Westen zurück, sondern zog nach Halle, in jenen Teil Deutschlands, von dem er sich eine bessere Zukunft erhoffte. Da im Zimmer des Vaters nur Platz war für die Mutter, wurden Elke Erb und ihre Schwester für zwei Jahre in ein Heim gesteckt. Damit endeten alle Kindheitsidyllen, wenn sich Erb auch in ihrem ersten Buch "Gutachten" von 1975 ohne Bitterkeit daran erinnert, wie die Mutter mit unendlicher Mühe die spelzigen Samenfädchen und Körnchen aus den winzigen Höhlen der Hagebutten schabte und schnitt, Stielchen und vertrocknete Knöspchen entfernte, die Früchte dann durch den Fleischwolf drückte und "aus der roten vitaminreichen Masse" Konfekt für den "strengen weißen Winter" formte.
"Gutachten" ist heute ebenso wenig erhältlich wie alle anderen Erb-Bücher, die einst im Aufbau-Verlag und bei Steidl erschienen sind. Nicht einmal der 1988 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnete Band "Kastanienallee", in dem Erb ein für die deutsche Gegenwartsdichtung völlig neues Verfahren der Selbstkommentierung entwickelte. Sie versah jedes Gedicht mit einem Kommentar, der nicht nur dessen Hallraum ausmaß, sondern auch selbst ein eigenständiger poetischer Text war.
Elke Erbs Gedichte sind immer auch eine Schule des Denkens und Sprechens
Die verlegerische Treue hält ihr seit 22 Jahren Urs Engeler, in dessen kleinem, feinen Verlag unter anderem "Sonanz" erschienen ist, ein umfangreicher Band mit sogenannten 5-Minuten-Notaten, oder zuletzt, im Jahr 2019, "Gedichtverdacht", ein schmales Büchlein, das doch so etwas wie das Destillat ihres Schaffens darstellt. Der schnelle Wechsel vom hohen lyrischen Ton in den aufgeschnappten O-Ton findet sich darin, der ironische Seitenblick, die Auseinandersetzung mit philosophischen Denkfiguren, die skizzenhafte Naturbeschreibung, die Tagebuchnotiz, das beharrliche Abtasten der Sprache, ihrer Fallstricke, ihrer Möglichkeitsräume. So sind Elke Erbs Gedichte immer auch eine Schule des Denkens und Sprechens. Sie zeigen, welche Abzweigungen es gibt, welche Verästlungen entstehen können, wie sich Mensch und Welt zuweilen kubistisch ineinanderschieben: "Eine Straßenbahn kommt nicht / das sollte nicht sein / Allerhand Logiken / Mit dem Rücken zu dir Mit dem Messer und Gabel vor sich/ Gelegentlich miaut etwas Klappert / Ohr du und Gegend."
So abstrakt und konkret, so simpel und komplex zugleich hat in den letzten sechzig Jahren kein anderer Dichter geschrieben. Und nach dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis für Helga Schubert könnte man meinen, dass nun eine Generation von Schriftstellerinnen zu ihrem Recht kommt, der die verdiente Anerkennung lange Zeit nicht in gebührendem Maß zuteil geworden ist. Wer Elke Erb allerdings einmal erlebt hat, diese auf sehr ernste Weise äußerst heitere Person, der kann sich nicht vorstellen, dass die äußere Ungerechtigkeit sie betroffen hätte, oder höchstens solcherart, dass sie in einer wundersamen Drehung ihrer Gedichte aufgefangen worden wäre.