Theater:Manchmal surreal und immer faszinierend

Lesezeit: 2 min

Derzeit spielen sie nur noch in der Schweiz Theater vor Publikum. Manchmal im Freien und manchmal nur vor 15 Zuschauern.

Von Egbert Tholl

Wenn man erleben will, wie sehr das Publikum nach Theater giert, dann muss man derzeit in die Schweiz fahren - wenn man sich dort nicht lange aufhält, kann man sich auch mühelos an die bestehenden Quarantäne-Bestimmungen halten. Nicht alle Häuser spielen noch, das Theater Basel etwa stellt nun den Spielbetrieb ein, weil nur noch 15 Besucher erlaubt waren. In anderen Kantonen aber dürfen 50 zuschauen, jeder Platz ist besetzt. In St. Gallen und Luzern gibt es sogar Oper, wenn auch ohne Chor. Anderswo sitzt man im Freien.

Es ist beeindruckend zu erleben, wie in Trogen bei St. Gallen vor dem Palais Bleu 50 Menschen, eingehüllt in Schweizer Armeedecken, eineinhalb Stunden lang bei frostigen Temperaturen ausharren, um ein Gastspiel der Truppe Café Fuerte zu sehen. Wenn es sein muss, dann friert man halt, Hauptsache es gibt Theater. Und sehr gutes Theater: Danielle Fend-Strahm und Tobias Fend haben für fünf Akteure ein lustig bitteres Stück über Paketdienste recherchiert, erdacht und mit Präzision inszeniert, das gerade jetzt, wo jeder aus dem Lockdown munter Dinge im Internet bestellt, die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen der Lieferdienste zeigt und einen sehr nachdenklich werden lässt. "Pakete Pakete" heißt das Stück.

Geradezu opulent geht es im Theater Luzern zu. Dort inszeniert Lily Sykes in drei Stunden alle vier Teile von Elena Ferrantes 2000-Seiten-Roman-Tetralogie "Meine geniale Freundin". Ein überbordender Stoff, den Sykes als Meisterwerk der überbordenden Theatermittel umsetzt. Aus Ferrantes Anflügen folkloristischen Schwulsts wird ein Soundtrack von Arvild J. Baud, der 60 Jahre Geschichte mit Musik erzählt, dazu spielt das Luzerner Sinfonieorchester mitunter live, eine Opernsängerin schreitet vorbei wie eine Erscheinung. Und doch braucht Sykes nur drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler.

Sie konzentriert sich auf die Idee, dass die zwei Freundinnen, Lenu und Lila, in einem harten Viertel in Neapel im Spiel und im Erdichten sich eine Welt erschaffen. Es ist die Abkehr der "Erfindung der Frau durch den Mann", kein Aufschrei, eher eine Bestandsaufnahme. Frauenverstehende Kommunisten mutieren, kaum sind sie verheiratet, zu Patriarchen, selbstständig denkende Frauen sind unerwünscht, Klassenkampf ist auch Kampf um die Emanzipation in der Beziehung. Sykes gibt Ferrantes Epos ein Ziel, stellt die anonyme Erzählerin auf die Bühne, lässt Martina Spitzer viel erzählen - und Sophie Hottinger und Olivia Gräser spielen das dann ungemein intensiv, zusammen mit den durch viele Rollen hindurchschlüpfenden Herren. Manchmal fast surreal, aber immer faszinierend.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: