Elektro trifft Klassik:Aus den Wänden rieseln die Späne

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Muss sich die Musik dafür rechtfertigen, wo sie spielt? Strom-Festival in der Philharmonie Berlin. (Foto: Frankie Casillo)

Das "Strom"-Festival bringt zwei Tage Techno in die Berliner Philharmonie. So vibriert hat es da noch nie.

Von Jan Kedves

Kontextverschiebung kann schon lustig sein. "Die Regeln gelten leider auch heute!", sagt die Platzanweiserin zu dem Pärchen, das mit Bieren ankommt und überrascht ist, dass es so natürlich nicht reindarf in den Großen Saal der Berliner Philharmonie. Und was ist das für ein Wölkchen, das über dem Parkett aufsteigt? Tatsächlich, da vorne zieht ein Typ an seiner E-Zigarette. Man lässt ihn. Trinken verboten, vapen erlaubt: Willkommen beim "Strom"-Festival.

Die Philharmonie Berlin hat ihren Hans-Scharoun-Bau, der doch eigentlich die herrlichste Zweck-Architektur der Welt ist, zum ersten Mal ganz der elektronischen Musik überantwortet, zwei ausverkaufte Abende lang. Das mag wie ein mutiger Schritt wirken, ist aber eher überfällig. Die Philharmonie de Paris beherbergte im vergangenen Jahr wie selbstverständlich eine Ausstellung zur Geschichte der elektronischen Musik ("Electro"), samt Techno-Nacht. Die Elbphilharmonie in Hamburg baut ihr Programm locker auch aus Jazz und Elektronik. Sogar innerhalb Berlins erscheint der Schritt nur logisch: Staatsballett und Klassik im "Berghain", das hat es alles schon gegeben, vor Jahren. Die sogenannte Hochkultur pilgerte neugierig dorthin, wo Techno, Hedonismus und nackter Beton herrschen. Jetzt geht die Reise in die andere Richtung, was zunächst einmal heißt: In die Philharmonie müssen sehr, sehr viele Boxen geschoben werden.

Die Sound-Anlagen sind die größten Stars. Nur die Ohren bleiben menschlich

Zwei komplette Funktion-One-Soundsysteme hat der "Strom"-Kurator Stefan Goldmann, selbst Musiker und Labelmacher, geordert, eins für die Bühne des Großen Saals, eins fürs Foyer. Die Firma Funktion-One aus Großbritannien baut die potentesten Club-Anlagen der Welt, so eine steht auch im "Berghain". Sechsstellige Anschaffungskosten für den brutalst-möglichen Pegel, wobei der Funktion-One-Sound statt Brei eine erstaunliche Brillanz in den Höhen erzielt. Diese Anlagen sind in der Philharmonie also genauso Stars wie Kruder & Dorfmeister, Nina Kraviz oder Cristian Vogel, sie werden mit eigenen Spotlights angestrahlt. Nur die Ohren bleiben menschlich. Zu laut ist zu laut. Das Publikum macht von den Oropax-Spendern im Foyer also fleißig Gebrauch.

In diesem Konzertsaal, dessen exquisite Akustik noch in den hintersten Ecken ein sanftes Hineinhorchen erlaubt, wenn etwa Martha Argerich und Daniel Barenboim sich an gegenüberstehenden Flügeln in Liszts "Réminiscences de Don Juan" umtupfen, in diesem Saal sitzt am Freitag und Samstag das halbe Publikum mit gelben Stöpseln in den Ohren. Und hört nur ein abgedumpftes Substrat des Gebotenen. Das darf paradox finden, wer mag. Vielleicht sind die Sound-Philosophien der Klassik und des Techno einfach zu unterschiedlich. Letzterer zielt doch mehr auf den gesamten Resonanzkörper als aufs Ohr.

Beim Festival ist der Bass dann so bebend, dass schon kleine Häufchen von Spänen aus der bald sechzigjährigen Holzverblendung an den Saal-Eingängen rieseln - soviel Vibration war hier noch nie. Das bestätigen neben den Platzanweiserinnen auch die Garderobieren, die im Foyer geduldig das Scheppern der Metallgeländer und Fensterscheiben ertragen. Teils händigen sie die falschen Wintermäntel wieder aus, weil ihr Arbeitsbereich für den speziellen Anlass abgedunkelt wurde (Lichtstimmung "Club") und sie die Ziffern auf den Abholmarken kaum noch erkennen.

Jedes Jahr ein Strom-Festival? Warum nicht - wenn am Frauenanteil gearbeitet wird

Aber doch zum Wichtigsten, der Musik. Muss sie rechtfertigen, dass sie hier ausnahmsweise an legendärem Ort spielt, wo Karajan herrschte, und so weiter? Gute Frage. Kruder & Dorfmeister aus Wien fahren routiniert ihre Downbeat-Dub-Regie ab, das Publikum ist sofort glücklich und drängelt zum Tanz in die Gänge und vor die Bühne. Hätte das in einem normalen Club genauso funktioniert, oder besser, weil: ohne störende Bestuhlung? Vermutlich. Cristian Vogel aus Chile hat offenbar gedacht, man hätte ihn auf den Hügel in Bayreuth geladen: Sein Stück "Agnete and the Merman" verbindet Klänge, die an brutzelndes Spiegelei erinnern, mit dem pathetischen Grunzen eines Schmerzensmannes, der am ganzen Körper tätowiert ist und deswegen nur grobmaschige Netzhemden tragen darf: Siegmar Aigner. Er robbt im Dunkeln über die Bühne, während auf einer Videoleinwand eine hübsche junge Frau in Zeitlupe die zarte Hand durch einen Makramee-Vorhang steckt. Kurz: größtmöglicher Kitsch. Dafür aber Ryoji Ikeda aus Japan: fantastisch! Er lässt, geduckt hinter sein Laptop, den Großen Saal zum Kernspintomografen werden. Man fühlt sich wie in die Röhre geschoben und von Drill- und Böllersounds durchschossen. Ikeda reichert sie mit ordentlich Funk und Groove an. Das Publikum: glücklich paralysiert bis wippend.

Wird das zur Tradition? Von nun an einmal im Jahr ein "Strom"-Festival? Warum nicht - wenn am Frauenanteil gearbeitet wird. Zwei exzellente Auftritte von Frauen gab es. Die aus Tunesien stammende DJ Deena Abdelwahed spielte im Foyer einen brutal-funkigen Techno-Mix mit Zitaten aus arabischer Musik, und zum Abschluss legte die Star-DJ Nina Kraviz aus Sibirien schillernde Acid-Tracks auf. Das ändert nichts daran, dass der Frauenanteil des Programms bei gerade mal 20 Prozent lag. Das ist fast so wenig wie in der Besetzung der Berliner Philharmoniker.

© SZ vom 10.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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