Einflüsse auf Jorge Mario Bergoglio:Wie Papst Franziskus denkt

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Papst Franziskus liebt Fußball: Der damalige argentinischen Kardinal Jorge Mario Bergoglio zeigt in Buenos Aires einen Wimpel des Fußballclubs San Lorenzo de Almagro, dessen Anhänger er ist. (Foto: dpa)

Sehen, Urteilen, Handeln: Diesem Dreischritt folgt Papst Franziskus. Er ist ein Macher, kein Gelehrter wie sein Vorgänger Benedikt XVI. Der praktische Glauben des Papstes wird die Kirche verändern.

Von Matthias Drobinski

Es war ein zäher Kampf um Worte und Formulierungen. Eingebettet war er in brüderliche Gesten, in Gesänge und Gebete. Der Kampf fand im Schatten der modernen Kathedrale von Aparecida statt, dem großen Marienwallfahrtsort Brasiliens, im Mai 2007. Die Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik hatten sich versammelt, es ging darum, wie die katholische Kirche auf dem Kontinent auf die Globalisierung reagieren soll und auf die Spaltung der Gesellschaften in Arm und Reich, auf Säkularisierung, Glaubensverlust und den Erfolg der Pfingstkirchen.

Wir müssen uns neu öffnen, fand die Mehrheit der Versammelten. Den Konservativen und den vatikanischen Abgesandten wurde das unheimlich. Sie versuchten den Prozess zu beeinflussen, sie hatten Unterstützer dabei: die Leute vom "Sodalicium vitae christianae" aus Peru, einer sehr konservativen Bruderschaft, die es geschafft hatte, die Übersetzungs-, Büro- und Pressearbeit zu übernehmen. Auf einmal klangen am Morgen die abends zuvor beschlossenen Dokumente anders. Irgendwann reichte es dem Leiter der Redaktionskommission. Er selber beaufsichtigte nun den Prozess und übernahm die Öffentlichkeitsarbeit. Ob die Erkrankungen, derentwegen der Opus-Dei-Kardinal Juan Luis Cipriani (Lima) und Kardinal Alfonso Lopez Trujillo (Bogotá) abreisten, viralen oder politischen Ursprung hatten, blieb unklar. Für Jorge Mario Bergoglio jedenfalls, den Kardinal aus Buenos Aires und Leiter der Schlussredaktion, war es ein Triumph - über alle Änderungswünsche aus Rom.

Wer wissen will, was Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt denkt, der kann auf Hunderte von Büchern und Aufsätzen zurückgreifen, auf seine Habilitation über Bonaventura und seine Antrittsvorlesung über Glaube und Vernunft 1959, auf seine Einführung in das Christentum von 1968 bis hin zu den Jesusbüchern, die er als Papst geschrieben hat. Wem das nicht reicht, der kann all die Bücher lesen, die über die Bücher Ratzingers geschrieben wurden, der kann in ein halbes Jahrhundert Theologiegeschichte eintauchen.

Wer dagegen wissen will, was Jorge Mario Bergoglio, der neue Papst Franziskus, denkt, muss vor allem sein Leben und seine Taten ansehen. Ein eigenes theologisches Werk hat er nicht geschaffen; sein Promotionsprojekt über den Theologen und Philosophen Romano Guardini, das er an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt begann, blieb unvollendet.

In dieser Zeit ist ihm vielmehr das Bild der Maria als Knotenlöserin ans Herz gewachsen, das in Augsburg zu sehen ist und Maria zeigt, die sich ums Verworrene in dieser Welt kümmert. Bergoglio hat ein halbes Dutzend Bücher geschrieben und ein paar weitere herausgegeben, es gibt eine autorisierte Biografie und ein Interviewbuch gemeinsam mit dem Rabbiner Abraham Skorka. Wirklich viel ist das nicht.

Der Papst ist ein Macher, kein Gelehrter

Und so haben sich die meisten Deutungsversuche bislang aufs Biografische konzentriert: Da ist ein Papst, der wie Joseph Ratzinger aus kleinen Verhältnissen stammt, aus einer behütenden Familie mit selbstverständlichem Katholizismus. Der aber, anders als Ratzinger, sich nicht vom Leben separierte: Er war Chemietechniker, erst mit 21 entschloss er sich, Priester und Ordensmann zu werden - und den Rabbiner Skorka lernte er kennen, weil sie beide Fußballfans sind.

Bergoglio hat kein Gelehrtenleben geführt, er ist als Macher in der Kirche groß geworden. Als Macher versuchte er, sich und den Jesuitenorden durch die Zeit der Militärdiktatur bringen, so sehr dass ihm hinterher viele vorwarfen, er hätte mehr Prophet sein sollen und weniger daheim im Geflecht der Mächtigen. Als Kardinal ist er aber auch in die Armenviertel gegangen und war den Menschen nahe. Er hat den Dreischritt "Sehen-Urteilen-Handeln" des belgischen Arbeiterpriesters Joseph Cardijn übernommen und damit einen der Grundbegriffe auch der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, ohne das Menschen-, Gesellschafts- und Geschichtsmodell des Marxismus zu übernehmen, wie das mancher Befreiungstheologe tat.

Und im Jahr 2007, in Aparecida, Brasilien hat Bergoglio, der Praktiker und Kirchenpolitiker, geholfen, dass diese Menschenzuwendung zum Programm der lateinamerikanischen Kirche wurde - auch im Konflikt mit der Kurie, deren Chef er nun ist. Er hat sich geändert, sagen viele, die ihn kennen - geändert durchs Tun, die Praxis, die Erfahrung. Bei Franziskus folgt die Theorie der Praxis, die Form der Funktion. Das ist einer der großen Unterschiede zu Benedikt, das wird eine der großen Auseinandersetzungen des Papstes mit den Anhängern des Primats der Form und des Lehrsatzes in der katholischen Kirche sein.

Es gibt aus dem Jahr 2007 ein spannendes Interview mit Bergoglio, gegeben hat er es der katholischen Monatszeitung 30 Giorni, die der konservativen italienischen Bewegung "Communione e Liberazione" nahe steht - es eint sich ja im neuen Papst das Revolutionäre und das Traditionelle. Vieles, was der Kardinal aus dem fernen Argentinien sagt, nimmt vorweg, was er in seiner Brandrede im Vorkonklave 2013 sagen wird.

Auf die Fragen nach den Konflikten auf der Versammlung in Aparecida antwortet er, in der Kirche sei der Heilige Geist "Urheber der Einheit und der Vielfalt. Denn wenn wir es sind, die Verschiedenheit machen, kommt es zu Schismen. Und wenn wir es sind, die die Einheit wollen, kommt es zur Uniformität und Gleichschaltung." Ja, die Kirche müsse sich immer ändern: "Man bleibt nicht gläubig, wenn man wie die Traditionalisten oder die Fundamentalisten am Buchstaben klebt. Treue ist immer Änderung."

Also alles dem Heiligen Geist überlassen?, fragt die Reporterin. Nein, sagt der Kardinal, wir müssen uns neu organisieren: "Unsere Religionssoziologen sagen uns, dass sich der Einfluss einer Pfarrei auf einen Umkreise von 600 Metern erstreckt. In Buenos Aires liegen zwischen einer Pfarrei und der nächsten zirka 2000 Meter. Ich habe den Priestern damals gesagt: ,Wenn ihr könnt, mietet eine Garage, und wenn ihr den einen oder anderen disponiblen Laien auftreiben könnt, dann lasst ihn machen! Er soll sich um diese Leute hier kümmern, ein bisschen Katechese machen, ja, auch die Kommunion spenden.'" Auf die Bedenken eines Pfarrers hin habe er geantwortet: "Aus sich selbst herauszugehen bedeutet auch, aus dem Garten seiner eigenen Überzeugungen hinauszugehen."

Die Rückkkehr des Teufels

Und dann erzählt Bergoglio die Geschichte vom Propheten Jona: "Für Jona war alles klar. Er hatte klare Vorstellungen, was Gott betrifft, und auch darüber, was gut und was böse war. Er hatte ein Rezept dafür, wie man ein guter Prophet war. Gott brach wie ein Wirbelsturm in sein Leben ein. Er schickte ihn nach Ninive. Ninive ist das Symbol für alle Getrennten und Verlorenen, für alle Peripherien der Menschheit." Und Jona? Der sei erst einmal geflohen. Nicht das ungläubige Ninive, "sondern vielmehr die unermessliche Liebe Gottes zu den Menschen. Das war es, was nicht in seine Pläne passte. Seine Starrköpfigkeit machte ihn zum Gefangenen seiner strukturierten Urteile, seiner vorgefassten Methoden, seiner korrekten Meinungen. Er hatte seine Seele mit dem Stacheldrahtzaun dieser Gewissheiten abgegrenzt."

Man kann verstehen, warum sie nervös sind in der Kurie, wenn Papst Franziskus schwarze, orthopädische Schuhe statt der roten trägt und am Gründonnerstag Strafgefangenen die Füße wäscht und küsst. Die Gesten erschöpfen sich nicht in sich selbst, sie sind Programm. Dieser Franziskus aus dem fernen Argentinien ist revolutionär und konservativ zugleich. Er hat die Homo-Ehe eine "Intrige des Vaters der Lügen" genannt. Er hat in seiner ersten Ansprache an die Kardinäle den französischen Schriftsteller Léon Bloy zitiert: "Wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel." Seit Paul VI. 1972 erklärte, der Rauch des Satans sei in die Kirche eingedrungen, hat kein Papst mehr so locker über den Leibhaftigen geredet.

Dass er es mit einem Zitat von Léon Bloy tat, dem zum Katholizismus konvertierten französischer Autor des 19. Jahrhunderts, ist auch ein Zeichen: Kaum einer hat das verbürgerlichte Christentum so scharf kritisiert wie Bloy. Kaum einer hat so radikal einfach gelebt wie er. Bloy wollte zurück zum Urchristentum, dem Gegenbild zur modernen Welt. In dieser egoistischen, auf Konsum und Materialismus hin orientierten Welt lief der Teufel durchaus leibhaftig herum, so wie der Teufel auch in den Armenvierteln von Buenos Aires leibhaftig ist, so wie die Hedonisten und Egoisten in den reichen Häusern dieser Erde dafür sorgen, dass es ihm gut geht, dem Teufel.

Der neue Papst wird manchem Europäer schwer verdaulich sein.

© SZ vom 30.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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