Eine Idee und ihre Folgen:Geist aus der Flasche

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„Das 16. Jahrhundert ist der Traum jedes Schriftstellers“ – zeitgenösische Darstellung der Verbrennung eines Bauern 1551. (Foto: Wikimedia Commons)

Hat die Autorengruppe Luther Blissett mit ihrem Roman "Q" unwillentlich eine Inspiration für QAnon geliefert?

Von Jörg Häntzschel

Luther Blissett war ein aus Jamaika stammender Fußballer, der 1983 und 1984 beim AC Mailand spielte. Luther Blissett war aber auch der Name eines Kollektivs linker Aktivisten, Prankster und Autoren aus Bologna, die 1999 einen kleinen Welterfolg mit ihrem Roman "Q" landeten.

Verschwörungsmythen, echte und erfundene Identitäten, kollektive Hysterie: das sind die Grundmotive vieler Aktionen von Luther Blissett. Bekannt wurden sie in Italien Ende der Neunziger mit einem elaborierten Medienhoax: In Bologna wurden damals ein paar Heavy-Metal-Fans, die "Bambini di Satana", zu Unrecht grausamer Verbrechen bezichtigt. Die Öffentlichkeit war elektrisiert, die Ragazzi waren dem Mob ausgeliefert. Luther Blissett fütterten die Presse daraufhin mit immer wüsteren Geschichten über satanische Rituale der Beschuldigten - nur, um die Schauermärchen kurz darauf als Fiktion zu entlarven und so der Öffentlichkeit vorzuführen, welch gefährlichem Unsinn sie erlegen war. Die "Bambini" wurden freigesprochen.

Umso bizarrer ist es, dass ausgerechnet ihr Roman "Q" offenbar als Inspirationsquelle für den weltweit grassierenden Verschwörungsmythos QAnon diente. Davon jedenfalls ist Wu Ming 1, der Mitglied des inzwischen aufgelösten Kollektivs war, überzeugt. "Q" spielt im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, der Zeit also, von der vor allem eine Geschichte geblieben ist: die von Luther, Wittenberg und der Reformation. Für Luther Blissett ist das nur ein Teil der Wahrheit. Wu Ming 1 verweist auf Engels, der in einem Brief an Marx schrieb: "Das 16. Jahrhundert ist der Traum jedes Schriftstellers: Reformation, Gegenreformation, der Boom des Buchdrucks und der erste Versuch von modernem Klassenkampf." Die Rede ist von den Bauernkriegen, den vom Luther-Schüler Thomas Müntzer angeführten Aufständen gegen Papst und Herrscher. In ihrem packenden Roman folgen Luther Blissett den Revolutionären durch Europa und beleuchten das, was ihnen in den Schulbüchern zu kurz kommt.

Ihr Held und Erzähler hat viele Namen: Brunnengert, Gustav, Don Ludovico. In seiner 2003 erschienenen Rezension des Romans nennt ihn der heutige Grünen-Chef Robert Habeck einen "James Bond der frühen Neuzeit". Sein Dr. No wiederum ist Q, ein Agent des Vatikan, der vorgibt, auf der Seite der Revolutionäre zu stehen und diese mit geheimen Informationen aus dem Zentrum der Macht versorgt. In Wahrheit spioniert er sie aus, führt sie in die Irre und liefert sie ans Messer.

Für Wu Ming 1 sind die Ähnlichkeiten zwischen "Q" und QAnon unübersehbar: "Wer QAnon gestartet hat, muss den Roman gekannt haben." Auch der heutige Q sendet Botschaften aus dem Inneren des Machtapparats, in diesem Fall die US-Geheimdienste, auch er bläst zur finalen Schlacht gegen die "Elite". Doch "Q" hätte auch das Ende von QAnon sein können. Hätten die Verschwörungsgläubigen den Roman gelesen, hätten sie dort gelernt, dass Informationen von Insidern wie Q nicht zu trauen ist. Wer hat den neuen Q im Netzforum 4chan also in die Welt gesetzt hat, und mit welcher Absicht? "Es könnte jemand gewesen sein, der die rechtsextreme Alt-Right-Bewegung mit einem Hoax vorführen wollte", mutmaßt Wu Ming 1. "Doch die Leute glaubten die Geschichte, sie ließ sich nicht mehr einfangen. Wer immer es war, hat einen großen Fehler gemacht. Satire und Ironie funktionieren auf 4chan nicht." Vorwürfe macht Wu Ming 1 sich nicht dafür, eine Figur erfunden zu haben, die nun von anderen zweckentfremdet wird. "Dafür sind wir nicht verantwortlich. Als Charles Manson 1969 Sharon Tate und andere ermordete, behauptete er, der Song ,Helter Skelter' von den Beatles habe ihn dazu angestiftet. McCartney spielt den Song noch heute." Dennoch lässt ihn das Thema nicht los. Im Januar erscheint sein Buch "La Q di Complotto", das Q in Verschwörungsmythen.

Auf Deutsch ist "Q" beim Verlag Assoziation A erschienen. Die Werke von Luther Blissett sind urheberrechtsfrei, sie kursieren auch im Netz.

© SZ vom 30.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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