Ein Violinkönig:Die Kraft des Lyrischen

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Ein Violinkönig der Gegenwart: Augustin Hadelich. (Foto: Suxiao Yang)

Musikantisch? Lebensprall? Von wegen. Der Geiger Augustin Hadelich widerlegt Klischees und vertieft das Verständnis für "Bohemian Tales", die eben keine böhmischen Dörfer sind.

Von Harald Eggebrecht

Zu den missglückten, um nicht zu sagen abgeschmackten Charakterisierungen melodienreicher, von Volksmusik beeinflusster, sehr rhythmisch konturierter Musik gehören Begrifflichkeiten wie "musikantisch", "melodienselig", "lebensprall" und Ähnliches. Auf die Spieler bezogen ist dann gern von "Vollblutmusikern", die ihr Herzblut verströmen, und fröhlichem bis naivem "Musikantentum" die Rede. Das klingt mehr oder weniger herablassend und ist letztlich auch so gemeint. Weil es dagegen vermeintlich eben jene "Tonkunst" gibt, die unauslotbare Gedankentiefe, philosophischen Anspruch, mystische Verklärung und dergleichen mehr bietet. Dass dabei vor allem an deutsche Musik von Bach bis Bruckner gedacht wird, liegt auf der Hand.

Vor allem die tschechische Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat auch bei ihren bedeutendsten Meistern für solcherart gönnerhafter Gegenüberstellungen öfter herhalten müssen, als man denken sollte. Ob Bedřich Smetana, Antonin Dvořák oder Josef Suk, alle wurden und werden gern in die Nähe des zwar vitalen, auch gefühlsechten, zuletzt aber doch vor allem "böhmischen" Musikantentums geschoben. Als eine gewisse Ausnahme wird in dieser Debatte wenigstens Leoš Janáček gesehen, dessen höchst eigentümliche Musik als ähnlich wegweisend für die Moderne gilt wie etwa Modest Mussorgski in der russischen Musik.

Bezeichnend auch, dass in dieser verqueren Diskussion melodischer Einfallsreichtum als Kriterium für hochambitionierte Musik oft von vornherein als konservativ und rückwärtsgewandt abgetan wird. In diesem Zusammenhang wird da häufig von "Kitschecken" gesprochen, von "guilty pleasures", die doch jeder habe. Sogar der gestrenge Theodor W. Adorno gab zu, dass er die sogenannte Zigeunermusik sehr mochte. Wie auch schon Johannes Brahms, der sie allerdings wie Franz Liszt und andere fälschlicherweise für genuin ungarisch hielt.

Der Begriff der Bohème erweist sich als Irrtum

Brahms schätzte allerdings Dvořák als epochales Talent ein und förderte ihn lebenslang. Gerade Originalität, Kraft und Vielfalt der Einfälle beeindruckten Brahms sehr: "Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben." Und Dvořáks berühmtes Cellokonzert bewunderte er vorbehaltlos: "Warum habe ich nicht gewusst, dass man ein Cellokonzert wie dieses schreiben kann? Hätte ich es gewusst, hätte ich schon vor langer Zeit eines geschrieben!"

Im Booklet zu seiner neuen CD "Bohemian Tales", also "böhmische Erzählungen", weist Augustin Hadelich, Jahrgang 1984 und längst einer der wirklichen Violinkönige unserer Tage, gleich darauf hin, dass auch der französische Begriff der Bohème für Lebensart und Milieu von Künstlern und Außenseitern auf einem Missverständnis beruht. Man dachte "irrtümlich, dass die Roma aus Böhmen stammen".

In der Musikgeschichte hat sich im Blick auf die vielfältigen musikalischen Bewegungen in ganz Europa während des 19. Jahrhunderts die Rede von den "nationalen Schulen" eingebürgert. Sicher, Dvořák oder Edvard Grieg in Norwegen, Jean Sibelius in Finnland, später Zoltan Kodály und Béla Bartók in Ungarn, um nur ein paar Beispiele zu nennen, orientierten sich an Traditionen in Sprache und Volksmusik, an Landschaften, Geschichte und Geschichten ihrer Heimat. Gleichwohl war das keine reaktionäre Wendung ins heimelig Vertraute, sondern vielmehr wollten die Komponisten aus diesen ureigenen Inspirationsquellen eine Musik erschaffen, die weit in die Welt ausstrahlte.

Hadelich hat Werke von drei Meistern auf der CD (Warner Classics) versammelt, neben Dvořáks Violinkonzert op. 53, Janáčeks Violinsonate und Josef Suks Vier Stücke op. 17. Es ist ihm geglückt, die Musiken in ihrer je individuellen Eigenart und ihrem je unterschiedlichen Anspruch so souverän und beherrscht darzustellen, dass sich all die oben kritisierten Klischees gar nicht einstellen können.

Für das Konzert hat er mit dem BR-Symphonieorchester unter Jakub Hrůša Partner gehabt, die seiner Idee, dieses oft nur als Stückwerk aus eingängigen Themen, kantilenenreichem Schmachten und virtuosen Einlagen präsentierte Werk wirklich ernst zu nehmen. So entsteht ein großformatiger, vielgestaltiger Prozess aus lyrisch leuchtendem Violingeist. Nie liefert Hadelich nur perfekte Soli, immer versteht er diese Musik als symphonisches Ganzes, in dem die Sologeige mit dem Orchester dialogisierender Primus inter Pares ist. Dabei entwickeln alle miteinander keinen schweren, gar klebrigen oder dumpfen Gesamtklang, sondern alles wirkt lichtvoll, beweglich und frisch.

Gut zu wissen, dass böhmische Dörfer noch keine böhmischen Geschichten sind

Gerade der oft an Gefühligkeit verratene langsame Satz wird hier zu einer nahezu improvisatorisch gestalteten, wunderbar intimen Gesangsszene. Auch das Finale flitzt nicht "vollblutmusikantisch" vorbei, sondern Hadelich, das Orchester und Hrůša verwandeln diesen Satz mit exzellenter Virtuosität in rhythmisch pointiert ausartikulierte Musik. Dabei lebt Hadelichs Geigenton von lyrischer Emphase und einem untrüglichen Sinn für einen Klang, der weder in den Tiefen falsch orgelt, noch in den Höhen dünn sticht oder gar schreit. Immer sucht dieser großartige Musiker im besten Sinne die Fülle des Wohlklangs bei aller dynamischen Differenzierungskunst.

Bei der Janáček-Sonate und bei Suks vier Stücken ist Charles Owen sein Klavierpartner. Auch hier zeigt sich, was symphonisches Denken, also wirkliches Zusammenspiel bedeutet, wenn der Pianist nicht nur harmonische Stütze und Stichwortgeber ist. Beide verstehen Janáčeks Sonate als manchmal fast atemlos stockende, hoch expressive Musik. Man kann das sicher auch spröder, sperriger spielen, aber hier kommt etwas von der brennenden Emphase des Komponisten unmittelbar zum Ausdruck.

Josef Suk (1874 - 1935) ist unbegreiflicherweise jenseits Tschechiens nicht in dem Maße bekannt, wie es dieser große Melancholiker verdient hat. Seine Klangfarben sind in einem sehr eigenen, dunkel schimmernden Impressionismus angesiedelt. Daher wusste er, wie sein Schwiegervater Dvořák ein ausgezeichneter Streicher, wie man auch auf der Violine Welten des Untergründigen, auch Unheimlichen und tief Schwermütigen beschwören kann, wie es Hadelich/ Owen hier gelingt. Die vier Stücke op. 17 kommen bei den beiden Musikern einer Neuentdeckung von Suks tragisch versonnener Musik gleich. Gut zu wissen, dass man böhmische Geschichten ganz ohne "Musikantentum" erzählen kann.

© SZ vom 31.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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