Ein Haus in Berlin:Etwas im Gange

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1965 kehrte Hans Magnus Enzensberger aus Norwegen zurück und kaufte für wenig Geld ein Haus in Berlin-Friedenau und residierte als Nachbar von Max Frisch, Günter Grass und Uwe Johnson.

Von Willi Winkler

Der Prospekt wusste vom "Drang zu frischer reiner Luft", wie sie drin in der kaiserlichen Hauptstadt nicht mehr zu haben war, und versprach dem "besser situirten Berliner" das Leben im Grünen, aber gleich neben der Wannseebahn. So entstanden in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts in dem Örtchen Friedenau zahlreiche Siedlungshäuschen und machten die Spekulanten reich.

Ein geritterter Sanitätsrat erwarb das Haus Fregestraße 19 um die Jahrhundertwende und überließ es der Familie Göring, so dass der spätere Reichsmarschall Hermann Göring seine Kindheit dort verbrachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Haus herunter und wurde für einen Schriftsteller erschwinglich, dem ein "Solarplexus" sagte, "dass in Deutschland etwas im Gange ist". Hans Magnus Enzensberger kehrte 1965 aus Norwegen zurück, kaufte das Haus für wenig Geld und residierte in Friedenau als Nachbar von Max Frisch, Günter Grass und Uwe Johnson.

Es muss eine gute Zeit gewesen sein: Grass trank mit Uwe Johnson und Günter Bruno Fuchs, und Lars Gustafsson staunte über Enzensbergers IBM-Schreibmaschine und das Sendungsbewusstsein der deutschen Kollegen. Zuletzt ereignete sich da sogar ein bisschen Weltgeschichte: Enzensbergers Frau zog aus und schloss sich der Kommune 1 an, die drüben in der Niedstraße in Johnsons Atelier untergekommen war. Als der Staatsschutz 1967 Ungemach für den amerikanischen Vizepräsidenten fürchtet, hebt die Polizei die dilettierenden Revolutionäre aus, was Johnson der New York Times entnehmen muss und ihn sich über die "revolutionare Aktivitaet der enzensbergerschen Sippe gegen meine Wohnung" empören lässt. Grass muss das "undichte Urchristentum" beenden; auch die Freundschaft mit Enzensberger wird aufgekündigt.

Spätestens seit diesem Vorfall wurde das Haus in der Fregestraße vom Verfassungsschutz überwacht, was den Besitzer nicht hinderte, im Wohnzimmer mit Dutschke, Rabehl und Semler über den kommenden Umsturz und eine Berliner Räterepublik zu parlieren und ekstatische Manifeste in die Welt hinauszuschicken. Zwischendurch musste er gegen die Notstandsgesetze demonstrieren und nach Kuba reisen, und angeblich kamen 1970 Baader, Meinhof und die anderen vorbei, um sich beim vermeintlichen Sympathisanten zu verstecken. (Nach einer anderen Version hatten sie Geld aus einem Banküberfall dabei.) Der Dichter zeigte den Anfängern den VW, in dem der Mann von der Überwachung hockte, und hatte fortan seine Ruhe. Am Ende verkaufte der Finanzexperte Enzensberger (aktueller Buchtitel: "Immer das Geld!") das Haus mit einer Traumrendite und zog sodann weiter nach München.

Christian Freitag hat dieses Haus eine Zeitlang gehütet und dafür von Enzensberger ein tolles Zeugnis erhalten. In einem opulent illustrierten Band hat der ehemalige Untermieter jetzt die Geschichte des Hauses in der Fregestraße einschließlich Göring und Kommune 1 rekonstruiert, als wär's ein richtiger Roman. Es ist aber alles wahr.

Christian H. Freitag: Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer. Aus der Geschichte eines Berliner Landhauses. Mit einem Vorwörtlein von Hans Magnus Enzensberger. Edition Friedenauer Brücke, Berlin 2015. 88 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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