Ein Aufsatz:Lustvoll unberechenbar

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In der der neuen Nummer der Zeitschrift für Ideengeschichte erzählt ein Aufsatz von einer Faschingsparty beim Religionssoziologen Paul Tillich. Adorno kam als Napoleon... Ein Jahr später, 1933, fiel die Party dann aus.

Von Jens Bisky

Partys, wenn sie denn gut sind, ermöglichen das Unwahrscheinliche, eröffnen Räume, in denen Vernunft und Eros durcheinander wirbeln können. Sie seien eine "Spielform lässiger Geselligkeit", "Kampfzone der Angestellten und Aufmarschgebiet der Nacht", schreiben die Herausgeber Jens Hacke und Stephan Schlak im neuen Heft der Zeitschrift für Ideengeschichte (IX,4, Winter 2015, Verlag C. H. Beck, 142 Seiten, 14 Euro). Ihre Revue mal wilder, mal braver Party-Szenen zeigt und zelebriert beiläufig, ohne jede weltanschauliche Verhärtung, das Leben offener Gesellschaften.

Am Abend des 27. Februar 1932 begann in Frankfurt-Niederrad, in der Wohnung von Hannah und Paul Tillich, eine Kostümparty. Der Theologe Paul Tillich war seit 1929 Professor für Philosophie und Soziologie an der Frankfurter Universität, er war ein gefragter Festredner, ein Mann der Öffentlichkeit, Dolf Sternberger hatte sich bei ihm mit einer Arbeit über Martin Heidegger promoviert, er unterstützte entscheidend die Habilitation Theodor W. Adornos. Der wiederum rühmte in den sechziger Jahren Tillichs Freiheit "von allem Engen, Muffigen und Moralisierenden".

Auch Adorno war bei der dialektischen Party dabei, er kam als Napoleon

Die Einladung zur Kostümparty des Februar 1932 hat sich in Archiven in Harvard und Amsterdam erhalten. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf präsentiert den Fund und schildert jenen Abend als ein Gruppenbild am Abgrund. Tillich las im Wintersemester 1931/32 über Hegel, die Einladung trug folgerichtig den Titel "Die Realdialektik oder durch Spruch und Widerspruch zur Einheit". Sie erging an fünfzig bis sechzig Gäste. Fünf Anmerkungen erläuterten Zweck und Regeln. Da heißt es etwa: "Die Selbstentfaltung der ersten Stufe beginnt um neun Uhr abends. Jede folgende Stunde zeitigt eine höhere Stufe. Wann das Ziel des realdialektischen Prozesses erreicht und jeder Spruch mit seinem Widerspruch versöhnt ist, kann nicht Gegenstand eines Urteils a priori sein. Hier ist die Stelle für das Unberechenbare in der Geschichte."

Versöhnung konnte durch Vereinigung herbeigeführt werden, das Wohnzimmer war verdunkelt und zum "Aphroditorium" erklärt worden, Paaren stand das Arbeitszimmer Tillichs zur Verfügung. Geraucht werden durfte überall, in der Küche versorgten drei Studenten die Feiernden mit Getränken. Gekommen waren etwa Sternberger - mit Lorbeerkranz und Toga -, Adorno - als Napoleon - an der Seite seiner Freundin Gretel Karplus, Max und Maidon Horkheimer, Frankfurter Professoren und viele mehr. Tillichs Assistent Harald Poelchau, der im "Dritten Reich" Gefängnispfarrer in Plötzensee war, zum Tode Verurteilten beistand, Verfolgten half, trug auf der realdialektischen Party 1932 eine Polizeiuniform, da er das "Gegenteil eines Ordnungshüters" war. Kurt Riezler, damals Honorarprofessor für Philosophie, heute vor allem bekannt, weil er vor dem und im Ersten Weltkrieg ein Vertrauter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg war, erschien im Braunhemd der SA - "als das andere seiner selbst". Er emigrierte 1938 in die USA und hat sich für diese Kostümierung bei den Gastgebern immer wieder entschuldigt.

Friedrich Wilhelm Graf skizziert eindrücklich auch die späteren Schicksale derer, die 1932 realdialektisch gefeiert hatten. Die Tillichs luden auch 1933 wieder zum Kostümfest, sagten dieses aber bald nach dem 30. Januar ab. Der religiöse Sozialist Paul Tillich, dessen Schrift "Die sozialistische Entscheidung" sich gegen die Nationalsozialisten richtete, wurde im April als einer der ersten nichtjüdischen Professoren von den neuen Machthabern beurlaubt, im Oktober verließen er, seine Frau Hannah und die Tochter Erdmuthe Deutschland. Am Heiligen Abend 1933 empfingen sie Gäste, von denen einige im Jahr davor in Frankfurt dabei gewesen waren, in ihrer Wohnung in New York, 99 Claremont Avenue.

Die Zeitschrift für Ideengeschichte wird ihr zehnjähriges Bestehen am 18. Februar 2016 in Berlin feiern, mit einer Party, versteht sich.

© SZ vom 20.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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