Ein Aufsatz:Kriegs-Software

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Amerikanische Mentoren bundesrepublikaner Geistesgeschichte: Der Literaturwissenschaftler Jan Bürger schreibt in der "Zeitschrift für Ideengeschichte" über den US-Außenminister Kissinger und die "Suhrkamp Culture".

Von Willi Winkler

Siegfried Unseld gehörte zu den Ersten, die in die Harvard Summer School nach Boston eingeladen werden. Der ehemalige Marinefunker hatte 1955 eben, von Hermann Hesse unterstützt, Prokura im Suhrkamp-Verlag erlangt und durfte sich Hoffnung machen, in naher Zukunft selber Verleger zu werden. Hesse hat ihn auch für den zweimonatigen Studienaufenthalt in Boston empfohlen. Der 30-jährige Unseld sei "vom Wunsch nach einem Erweckungserlebnis regelrecht besessen" gewesen, schreibt Jan Bürger ( Die Kissinger Boys. Von der Harvard Summer School zur Suhrkamp Culture, Zeitschrift für Ideengeschichte, XI/4, Winter 2017), und Amerika offenbarte sich ihm durch den Gastgeber Henry Kissinger. Bereits die Fähre nach England in Ostende betritt Unseld mit einem "Gefühl des Besonderen". Auf der Überfahrt nach New York liest er Hemingways Novelle "Der alte Mann und das Meer" und selbstverständlich auf Englisch. Seinem Autor Uwe Johnson wird er später vom "frischgeschnittenen Rasen", den Eichhörnchen und den "herrlichen Bibliotheken" vorschwärmen.

Johnson rechnet seinen Verleger mit dieser amerikanischen Bildungsgeschichte zu den "Kissinger boys", und Unseld bleibt seinem Mentor tatsächlich sein Leben lang treu. Für die Veranstalter, für Kissinger vor allem, war die Summer School kein selbstloses Angebot, sondern ein "politisches Projekt". Es sei darum gegangen, meint Bürger, "die Software des Kalten Krieges in die Köpfe der Stipendiaten einzuschreiben". Bei Unseld habe das so gut funktioniert, "dass seine Suhrkamp Culture der 1960er-Jahre" ohne Subventionen aus dem Umfeld der CIA ausgekommen sei.

Unseld bewunderte, wie Kissinger immer die Hände in die Hosentaschen steckte

Trotzdem vergleicht ihn Bürger mit einem "alliierten Agenten", weil er nicht bloß weitere Stipendiaten nach Harvard vermittelt hat, sondern seinen Förderer mit Informationen aus Europa versorgte. Kissinger hielt Unseld seinerseits die Treue und begrüßte ihn 1975 auf dem Kanzlerfest so herzlich, dass Unseld in seiner "Chronik" voller Stolz festhalten kann, wie Helmut und Loki Schmidt "sichtlich überrascht" wurden, "denn auf Solches waren sie nicht gefasst gewesen". Unseld sei frei von "jenem Antiamerikanismus" gewesen, meint Bürger dann etwas arg schlicht, "der unter sich selbst als progressiv verstehenden Studenten, Hochschullehrern und Schriftstellern spätestens seit der Revolte von 1968 zum guten Ton gehört".

In einer Zeitschrift für Ideengeschichte wäre ein Hinweis darauf nicht ganz falsch, dass dieser Antiamerikanismus auch enttäuschte Liebe war, dass amerikanisch sozialisierten Dozenten wie Ekkehart Krippendorff und Reinhard Lettau nicht zufällig Protestformen wie das Sit-in aus den USA importierten, auf denen mittlerweile, in den Worten Hans Magnus Enzensbergers von 1968, ein "fürchterlicher Blick" ruhte. Der war möglicherweise Mode, es gab aber auch gute Gründe dafür. Die studierende amerikanische Jugend war mindestens so antiamerikanisch wie die in Berlin oder Frankfurt. Der fortgesetzte Vietnamkrieg, der sich vor aller Augen im Fernsehen abspielte, entfremdete die treuesten Amerika-Freunde, aber nicht Unseld.

"Anders als wir", schreibt Johnson 1975 an Unseld, sei "Max Frisch dieser leider welthistorischen Figur mit Worten sehr nahe gekommen". Diese Figur ist Henry Kissinger, der Unseld und Frisch 1970, fünfzehn Jahre nach dem frischgeschnittenen Rasen und den Eichhörnchen, durchs Weiße Haus führt, in dem er jetzt der engste Berater eines Präsidenten ist, der am Tag zuvor Kissingers Rat gefolgt ist und die illegale Invasion in Kambodscha befohlen hat. Enzensberger ist nicht der Einzige, der Kissinger deshalb einen "Kriegsverbrecher" nennt. Zwei Freunde, zwei Europäer und das Staunen über die Macht ganz unterschiedlich: Unseld bewundert nur, Frisch notiert, wie Kissinger immer die Hände in die Hosentaschen steckt. "Seine Verantwortung steht in keinem Verhältnis mehr zu der Person, die einen Anzug trägt wie wir." Und dann: "Je mörderischer der Irrtum sein kann, umso weniger kann einer dafür. Ohne dass ich ein Wort durchlasse, sagt Henry A. Kissinger, er ertrage Verantwortung lieber als Ohnmacht."

Bis zu jenem Tag waren bereits zweihunderttausend Menschen in Kambodscha gestorben, und die neue Invasion sollte am Ende die Roten Khmer an die Macht bringen.

© SZ vom 05.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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