Ein Aufsatz:Gut gemischt

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Georg Stanitzek erkundet auf den Spuren von Balzac, Marx und Erich Mühsam die Bohème in Westberlin und anderswo.

Von Jens Bisky

Marx hat sie verachtet, Balzac ihr alles zugetraut, die Bohème reizt in schöner Regelmäßigkeit die Fantasie vieler, die nicht dazugehören. Wer prägt das subkulturelle Milieu anti-bürgerlicher Bürgerlichkeit? "Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler", dekretierte Erich Mühsam 1906 in der Fackel. Sie halten nicht viel von Konventionen, allgemeiner Moral und könnten daher einer "neuen Kultur" die Wege weisen.

Nachdem seit der letzten Jahrhundertwende oft und ausgiebig über Neue Bürgerlichkeit und das Phantasma eines Neo-Biedermeier geredet wurde, strahlt auch die Bohème in neuem Glanz: als digitale ("Wir nennen es Arbeit"), als Alternativkultur der Siebziger und Achtziger ("Authentizität und Gemeinschaft") oder West-Berliner Dämmerung der Theorie ("Der lange Sommer der Theorie"). Und die Selbstbeschreibung Berlins braucht Bohème-Topoi und deren Derivate mehr noch als Currywurst und Döner. Auch deswegen hat man beim Blättern in dem Band "Bohème nach '68" meist den Eindruck, Gegenwartsdiagnosen und Wunschbilder zu lesen.

Damit diese nicht zu schlicht ausfallen, empfiehlt sich ein Blick in den Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Georg Stanitzek über " Die Bohème als Bildungsmilieu. Zur Struktur eines Soziotops" ( Bohème nach '68. Herausgegeben von Walburga Hülk, Nicole Pöppel, Georg Stanitzek. Vorwerk 8, Berlin 2015, 246 Seiten, 19 Euro). In seiner munteren Revue der Beschreibungen unterscheidet Stanitzek zwei Linien der Forschung. Eine beginnt bei Marx, für den Bohème und Lumpenproletariat als Herrschaftsbasis des Louis Boanaparte in eins fielen: "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen". Balzac dagegen, Vater der zweiten Traditionslinie, entwarf 1844 eine Reihe von Paradoxen: junge Menschen zwischen 20 und 30, "sämtlich in ihrer Art Genies, vorerst noch wenig bekannt". In den Karnevalstagen machen sie "der Überfülle ihres Geistes Luft, der während des übrigen Jahres eingeengt ist". Stanitzek entdeckt in diesen Formeln "eine sachliche Paradoxie": Die Gemeinschaft der Tagediebe und Tunichtgute solle sein "ein ökonomischer und ein Bildungsfaktor erster Güte". Sie stelle als "Ausbildungs- und Rekrutierungsbereich" den Vorhof der Funktionseliten dar. Freigiebig und aggressiv, Prostitution bewundernd, das Sich-Verkaufen der Künstler kritisierend, gut gemischt und vieles mischend. Man sieht, warum diese urbane Legende vorerst unsterblich scheint. Sie taugt zum Gegenbild vieler Furchtbarkeiten des Alltags.

© SZ vom 23.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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