Dystopie von Michael Stavarič:Wortverwehung im ewigen Eis

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Michael Stavarič: Fremdes Licht. Roman. Luchterhand Verlag, München 2020. 510 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

In Michael Stavaričs "Fremdes Licht" erzählt die Überlebende einer intergalaktischen Katastrophe. Allerdings wirkt der Roman vom Begehren des Autors nach Dichtkunst sehr beschwert.

Von Thomas Steinfeld

Von Eis und Schnee werden, so viel lässt sich über die nähere Zukunft der Literatur sagen, in den nächsten Jahren noch viele Romane handeln. Je trockener und wärmer die Welt wird, je gründlicher der Borkenkäfer vorankommt und die Meerespegel steigen, desto reizvoller müssen Lebensumstände erscheinen, in denen man sich warm anziehen muss. "Vier, fünf Paar Socken streife ich mir über, Thermounterwäsche, zwei, drei Pullover, einen dicken Schal", erzählt die Heldin in "Fremdes Licht", dem wohl zehnten Roman des tschechisch-österreichischen Schriftstellers Michael Stavarič, "doch friere ich dennoch." So ausgestattet, scheint sie vor sich hinzureden und dem Leser, dem unmöglichen Adressaten ihrer Selbstgespräche, langsam zu enthüllen, wo sich befindet, was mit ihr geschehen ist und von welcher Zeit sie berichtet. Von einer fernen Zukunft und aus den Trümmern eines Raumschiffs, das mit den Überlebenden einer galaktischen Katastrophe auf einem vermeintlich fernen Planeten zerschellte.

Das Buch ist indessen kein Abenteuerroman, noch geht es im engeren Sinn um Science Fiction. Elaine Duval, so heißt die Protagonisten, einer Fachfrau für die Reproduktion von Leben und mit einer innigen Verbindung zur Kälte im Allgemeinen und zu Grönland im Besonderen ausgerüstet, ist vielmehr nur das Vehikel einer langen Etüde für das Sprach- und Vorstellungsvermögen. Mit Formulierungen wie "ich stellte mir vor", "ich weiß noch", "ich überlegte, wie es wohl wäre" und "ich dachte daran" beginnen viele Absätze.

Was dann kommt, klingt zum Beispiel so: "Ich verkroch mich wieder und versuchte etwas auszuruhen, während eisige Winde am Forschungsmodul rüttelten, sie verbliesen Scheewechten und schlugen mit ihren Pranken gegen das Metall, entlocktem diesem schrille Töne, während unablässig Schnee durch kleinste Risse ins Innere rieselte, bis zu meiner Schlafstätte." Von Periphrasen spricht man in der Rhetorik angesichts solcher Wortverwehungen. Sie entstehen zwecks übertrieben poetischer Wirkung und lassen sich, wenn einem der Sinn nach weiterer Steigerung schwerkünstlerischer Durchschlagskraft steht, vortrefflich mit Fragen nach Leben und Tod oder nach dem Sinn des Lebens verknüpfen. Auch die unselige Vorliebe des Autor für den Pleonasmus "schlussendlich" hat ihren Grund in einem solchermaßen forcierten Begehren nach Dichtkunst.

Die letzten und ersten Menschen, der berühmte Polarforscher, eine junge Inuit, alle ziehen vorüber

Fantasie wird in zwei Varianten geliefert. Die eine ist ein Mittel zum besseren Verständnis der Wirklichkeit: Sie erlaubt ihrem Besitzer, sich geistig hinaufzuschwingen auf die Höhe der Ereignisse. Sie gestattet ihm, sich vorzustellen, was passiert oder was noch passieren kann. Die andere Variante der Fantasie hat mit Wirklichkeit weniger zu tun. Sie dient der Enthebung vom Alltag, der Aussetzung der Schwerkraft oder der Selbstverklärung im Zeichen der Kreativität. Sie wäre als "Ausdenkvermögen" richtig bezeichnet.

Der Roman "Fremdes Licht" gehört gewiss eher zur zweiten Kategorie, was "schlussendlich" daran zu merken ist, dass die Fantasie in dem Fall nicht weit reicht: Selbstverständlich erinnert der Roman an die Geschichte von John Franklins Expeditionen ins Eismeer, so wie sie Sten Nadolny in "Die Entdeckung der Langsamkeit" (1982) erzählt, selbstverständlich spukt ein begnadetes Naturmädchen durch dieses Buch, so wie auch die junge Grönländerin in Peter Høegs Roman "Fräulein Smillas Gefühl für Schnee" aus dem Jahr 1992 eines war. Und selbstverständlich hat es auch den Einfall, das Ende einer letzten Reise sei auch ihr Anfang, schon einmal gegeben, so etwa in Franklin J. Schaffners Film "Planet der Affen" aus dem Jahr 1968.

Im letzten Drittel des Buch wird der Bogen noch weiter gespannt: Die letzten und ersten Menschen in der Eiswüste bekommen Gesellschaft. Der Polarforscher Fridtjof Jansen zieht vorüber und eine junge Inuit, die es nach Chicago verschlägt. Alle diese Geschichten haben einen tieferen Sinn, der sich vorzugsweise bei niedrigen Temperaturen erschließt: "Nur im tiefsten Winter kommen manchmal Tage auf, an denen die Grenzen im Hinüberwechseln noch einmal sehr scharf werden und man alles voneinander trennen kann, sogar eine ganze Vergangenheit von einer unbekannten, sich erst formierenden Zukunft."

Und was siegt am Ende? Die Liebe vielleicht, ganz unerwartet? Schnee ist tatsächlich etwas Schönes. Zu seinen Vorzügen gehört es, die Welt wie ein weißes Laken der Unschuld unter sich zu begraben. Insofern schneit es in diesem Roman noch bei weitem nicht genug.

© SZ vom 17.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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