Drama:Monster und Mauerblümchen

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Der kanadische Filmemacher Xavier Dolan gilt als Regiewunderkind, sein neuer Film ist das Familendrama "Einfach das Ende der Welt".

Von Martina Knoben

"Home is where it hurts", zu Hause ist da, wo es wehtut, singt die französische Sängerin Camille, als Louis (Gaspard Ulliel) mit dem Taxi vom Flughafen zu seiner Familie fährt. Er ist ein erfolgreicher Schriftsteller Mitte dreißig. Zwölf Jahre hat er seine Mutter, seinen Bruder (Vincent Cassel) und seine Schwester nicht mehr gesehen. Dass er nun zu Besuch kommt, hat einen Grund: Louis wird bald sterben, und das will er ihnen persönlich mitteilen.

Dass "Einfach das Ende der Welt" in der Woche nach Weihnachten in die Kinos kommt, ist ein ironisches Timing. Gerade hockten viele noch eng mit der Familie zusammen, da lassen sich die Emotionen, um die es in diesem Drama geht, gut nachvollziehen. Xavier Dolan und sein Kameramann André Turpin beschwören ein Gefühl bedrückender Enge herauf. In fast jeder Einstellung ist die Kamera nah an den Gesichtern. Manches sieht man deshalb überdeutlich, anderes überhaupt nicht. Was visuell spiegelt, warum die Mitglieder dieser Familie so blind füreinander sind, sie sind einfach zu nah beieinander.

Es ist ein heftiger Gefühlsmix, den der 27-jährige franko-kanadische Regiestar Dolan wieder einmal inszeniert. Schon mit 17 hatte er das Drehbuch zu seinem Debüt "Ich habe meine Mutter getötet" geschrieben, den er zwei Jahre später als Autodidakt drehte. Seitdem ist er Stammgast auf den großen Filmfestivals, für "Mommy" bekam er vor zwei Jahren den Preis der Jury in Cannes, für "Einfach das Ende der Welt" hat er dieses Jahr den Großen Preis der Jury bekommen. Außerdem ist der Film für einen Auslands-Oscar nominiert.

Die Mutter (Nathalie Baye) und der Sohn (Gaspard Ulliel) versuchen sich an einer Familienzusammenführung. (Foto: Weltkino)

Dolan erzählt von den toxischen Banden, die eine Familie zusammenhalten: Liebe, Eifersucht, Wut, Eitelkeit, Gleichgültigkeit und Ignoranz. Am Ende ist der Zuschauer gleichzeitig geschüttelt und gerührt. Wenn es einen Preis für die beste Ensembleleistung gäbe, hätte sie "Einfach das Ende der Welt" schon so gut wie im Sack. Oberflächlich betrachtet passiert im Film nicht viel, was sich aber zwischen den Personen abspielt, in den Dialogen, Blicken und Gesten, ist große Schauspielkunst. Dabei geht Dolan mit seiner Star-Power verschwenderisch um, und zwar in dem Sinne, dass er den Glamour, den seine Besetzung bietet, gerade nicht ausstellt.

So verwandelt er Léa Seydoux, die für "Blau ist eine warme Farbe" mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet wurde und ein Bond-Girl war, in ein punkiges Provinztrutscherl mit Tatoos; oder die wunderbare Nathalie Baye in ein Muttermonster mit blau lackierten Fingernägeln. Und Marion Cotillard, die im Agentendrama "Allied" gerade zeigt, wie sehr sie die Leinwand zum Strahlen bringen kann, ist als Louis' Schwägerin Catherine ein verhuschtes Mauerblümchen. Der Trick dabei ist, dass die Ausstrahlung der Frauen durchaus zu spüren ist, aber erst auf den zweiten Blick, was umso nachhaltiger wirkt.

Vorlage für "Einfach das Ende der Welt" ist ein Theaterstück von Jean-Luc Lagarce, der in Frankreich zu den meistgespielten Dramatikern zählt. Als er es schrieb, wusste Lagarce, dass er HIV-positiv war, mit 38 starb er an Aids. Die Bühnenherkunft des Stoffes merkt man in fast jeder Einstellung. Thema des Films ist die Unmöglichkeit, sich mitzuteilen, die Sprache an sich. Ständig wird geredet, aber nie das gesagt, was zählt. Sätze werden nicht zu Ende geführt. Floskeln, Gezicke und Gezeter ersetzen Empathie. So reiht sich eine Kommunikationskatastrophe an die nächste.

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Mit Ausnahme seiner Schwägerin Catherine machen alle Louis für ihr Gefangensein in einem unbefriedigenden Leben verantwortlich. Weil er in der Fremde Erfolg hatte, wird er zur Projektionsfläche, auf der jeder seine verpassten Chancen sieht.

Die Kamera zeigt die Figuren so, wie sie sich auch zueinander verhalten: unscharf

Die Sehnsucht nach Liebe und Nähe ist fast mit den Händen zu greifen, aber es greift niemand zu, so widersprüchlich sind die Gefühle. Der Zuschauer ist ganz auf der Seite von Louis, den Gaspard Ulliel als sanften Charismatiker spielt. Bis Catherine ihm vor Augen führt, wie wenig sich Louis in der Vergangenheit für seine Familie interessiert hatte. Er wisse ja nicht einmal, was sein Bruder arbeite. Wie Catherine das formuliert, ist ein seltenes Beispiel für den Versuch, wahrhaftig zu sprechen, was furchtbar umständlich und komisch anmutet, aber tief berührt: "Ich glaube, er denkt, dass das, was er macht, nicht gerade geeignet ist, ihr Interesse zu erregen", sagt Catherine zu Louis. "Und ich glaube nicht, dass er damit falschliegt." Für seine Familie ist Louis im Grunde längst tot.

Weil die Kamera immerzu Nahaufnahmen macht, sind oft Bereiche des Bildes unscharf. Personen treten aus dieser Unschärfe in die Schärfe hinein und verschwinden wieder aus dem Fokus. So wird etwas Wesentliches von Kommunikation sichtbar - dass die Momente geglückter Begegnung rar sind. Ähnliches gilt wohl auch für das Leben: In "Einfach das Ende der Welt" ist es ein kurzer Moment innerhalb der großen Unschärfe.

Juste la fin du monde , Frankreich/Kanada 2016 - Regie: Xavier Dolan, Buch: X. Dolan nach dem gleichnamigen Theaterstück von Jean-Luc Gagarce. Kamera: André Turpin . Mit: Nathalie Baye, Vincent Cassel, Marion Cotillard, Léa Seydoux, Gaspard Ulliel. Verleih: Weltkino, 97 Minuten.

© SZ vom 29.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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