Langsam bewegt sich die Kamera durch den Korridor der Psychiatrie. Alles wirkt leer, kalt, steril. Was hinter den Zimmertüren vor sich geht, sieht und hört man nicht; was man hören könnte, wird überlagert vom Dröhnen der Lüftungsanlage. Die Kamera gleitet um eine Ecke, fährt auf das Ende des Ganges zu. Dort ist eine Tür. Man erwartet, dass sie aufgeht, einen Einblick gewährt. Aber nichts passiert. Die Kamera bleibt stehen wie vor einem undurchdringlichen Geheimnis. Vorerst.
Mit dieser verstörenden Kamerafahrt zieht Raymond Depardon, der berühmte französische Dokumentarfilmer und Fotograf, den Zuschauer schon in den ersten Minuten in seinen Bann, in die Faszination eines Ortes, der vom Rest der Welt abgeschottet ist. In einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt zu filmen ist allein juristisch schon hochproblematisch. Depardon hat dennoch eine Ausnahmegenehmigung erhalten, für das Krankenhaus Le Vinatier, in Lyon.
Aus diesem Grund öffnet sich doch irgendwann eine Türe. Nicht jene, vor der seine Kamera anfangs anhält, aber eine andere. "Salle d'Audience" steht auf der Türe - "Gerichtssaal". Aus diesem Raum macht Depardon das Zentrum seines Films. Hier werden zwangseingewiesene Patienten nach zwölf Tagen einem Richter vorgeführt, im Beisein eines Anwalts. Auf Grundlage des medizinischen Gutachtens und nach dem Gespräch mit dem Patienten entscheidet der Richter dann über die Rechtmäßigkeit und Verlängerung der Maßnahme. Früher konnten in Frankreich die Ärzte alleine diesen Freiheitsentzug anordnen, seit 2013 bedarf es dieser richterlichen Absegnung. Die Prozedur muss alle sechs Monate wiederholt werden. Depardon, der das Thema Psychiatrie schon lange filmisch untersucht, hat aus zehn dieser Sitzungen die Dokumentation "12 Tage" gemacht, die dieses Jahr außerhalb des Wettbewerbs in Cannes lief.
Da ist zunächst einmal ein Typ, der auf der Straße jemanden zusammengeschlagen hat. Diagnose: Fremdaggressives Verhalten mit Selbstverletzungsrisiko. Er selbst weiß nicht, warum er das gemacht hat. Aber auch wenn er sich ab und an nervös im Gesicht kratzt, wirkt er besonnen und hofft, dass seinem Opfer nichts passiert ist. Umbringen wollte er niemanden. Die Richterin erklärt, dass man es so weit auch gar nicht kommen lassen wolle - und verlängert die Einweisung.
Man sieht also auf der einen Seite die Richterin, gut angezogen, im bürgerlichen Berufsleben stehend; auf der anderen Seite gescheiterte Existenzen, Menschen, die ihr Leben auf die Reihe kriegen müssen. So solidarisiert man sich fast automatisch mit den Patienten. Etwa mit dieser Frau, die bei der Arbeit für einen französischen Telekommunikationsanbieter offenbar zum Opfer von Mobbing wurde und danach Selbstmordgedanken geäußert hat. Oder mit der traumatisierten Mutter, die die Richterin bittet, ihre Tochter wiedersehen zu dürfen. Aber in diesen und allen anderen Fällen bestätigen die Richter die Einweisung.
Es läuft etwas schief, und die Opfer werden weggesperrt - ist es wirklich so einfach?
Depardon filmt auf die simpelste Art: eine Kamera auf den Richter, eine zweite auf den Patienten und seinen Anwalt. Was zunächst für die richterliche Autorität sensibilisiert, die hier über die Kranken ausgeübt wird. Man bekommt einen Eindruck davon, dass die Psychiatrie, wie schon der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault gezeigt hat, in erster Linie eine Institution der Macht ist. Hier kommen nicht einfach Verrückte her, hier werden sie als solche überhaupt erst definiert, zu solchen gemacht - was viel über die Gesellschaft erzählt. Da läuft etwas schief - Arbeitsbedingungen, soziale Miseren -, doch man kümmert sich nicht um Lösungen, sondern erklärt die Opfer für verrückt und sperrt sie weg. Gerade vor der richterlichen Instanz erscheinen die Patienten als Kriminelle, die hier nicht nur behandelt, sondern auch bestraft, mit Medikamenten kontrolliert und diszipliniert werden. Wie der schwarze Junge, der vor vielen Jahren gewalttätig war und nun sagt, er habe gelernt, "Frankreich zu respektieren". Gehen lässt man ihn natürlich trotzdem nicht. Sein Platz in der Gesellschaft ist jetzt hier.
Aber natürlich kennt man nie die vollständige Krankengeschichte, weswegen diese Solidarisierung mit den Kranken problematisch bleibt. In anderen Fällen solidarisiert man sich dann ganz klar mit der anderen Seite des Tisches, mit dem Richter, und erkennt, Machtkritik hin oder her, den Sinn von Institution und Verfahren durchaus an: Ein Patient hat mit einer Kalaschnikow gespielt, eine Frau berichtet von telepathischen Angriffen auf ihre Person, ein Mann bittet die Richterin, seinem Vater zu schreiben, den er jedoch, wie später herauskommt, längst umgebracht hat.
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Indem Depardon Richter und Patient immer getrennt voneinander zeigt, betont er auch, dass der Wahnsinn eine eigene, intime, unzugängliche Welt ist. So wird angesichts der Sitzungen klar, dass jedes vorschnelle Urteilen über den Wahnsinnigen unmöglich ist. Zwar müssen die Richter gerade das tun - schnell urteilen. Der Zuschauer aber muss das nicht. So kann man ohne jede Lobhudelei behaupten, dass Depardons Film unendlich komplex ist. Weil man den Wahnsinn nie wirklich filmen kann. Aber man kann sich ihm annähern, so wie Depardon das tut, zärtlich, liebevoll, mit dem richtigen Abstand.
Wenn es die Aufgabe eines Filmemachers ist, immer auch neue, bislang ungesehene Bilder zu machen, dann hat Depardon mit seiner Ausnahme-Drehgenehmigung genau das geschafft. Er besucht eine psychiatrische Anstalt und kommt zurück mit Eindrücken, die es so noch nicht gab. Er führt uns in einen Bereich des Ungesehenen - und zeigt doch, dass dahinter neue Türen und Welten liegen, die uns für immer verschlossen bleiben.
12 Jours , F 2017 - Regie und Kamera: Raymond Depardon. Produktion und Ton: Claudine Nougaret. Musik: Alexandre Desplat. Grandfilm, 86 Minuten.