Dokumentarfilm:Marish, Sklavin

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(Foto: eclipse)

In Europa soll es über eine Million Sklaven geben. Marish ist eine von ihnen, die Filmemacherin Bernadett Tuza-Ritter hat jetzt eine Doku über sie gedreht.

Von Simon Rayß

Der Mund eingefallen, die Zähne darin fehlen. Die Haut faltig wie bei einer 70-Jährigen. Es ist eine Topografie des Leidens. Aber diese Augen: so traurig und dennoch wach. Sie verraten das wahre Alter von Marish: 52 Jahre. Die vergangenen elf davon waren besonders schlimm. Die Ungarin schuftet jeden Tag zwölf Stunden in einer Fabrik. Einen Feierabend gibt es für sie nicht - sie ist eine moderne Sklavin, gehalten von einer kleinkriminellen Familie. Sie muss ihnen zu Diensten sein, Essen kochen, die Betten machen, putzen, Demütigungen und Schläge ertragen. Ihre Tochter hat Marish in ein Heim gegeben. Auch Geld bekommt sie keins, den Lohn für die Fabrikarbeit kassiert ihre Herrin. Sie gesteht der Sklavin nur Zigaretten zu, so viel Kaffee, wie sie trinken will, und eine Couch, auf der sie pro Nacht vier Stunden schlafen darf.

Dann tritt die Dokumentarfilmerin Bernadett Tuza-Ritter in ihr Leben.

Dass es überhaupt dazu kommt, ist kaum zu fassen. Marishs Halterin erlaubt Tuza-Ritter, eine Doku über den Alltag der Sklavin zu drehen, solange die Gesichter der Herrin und ihrer Familie nicht im Film zu sehen sind. Sie prahlt damit, zu Hause keinen Handgriff mehr machen zu müssen. Den Dreh lässt sie sich schließlich bezahlen. Kein Unrechtsbewusstsein, keine Scham. Sie rechtfertigt ihr Handeln sogar, geriert sich als Wohltäterin.

Marish aber fasst Vertrauen zur Regisseurin. Die beiden Frauen kommen sich über die Kamera hinaus auch emotional nahe. Ihre Zwiegespräche sind Teil des Films. Sie werden zu Verschwörerinnen gegen eine feindselige Umgebung.

Bis Marish den Mut aufbringt, ihre Flucht zu planen. Als Bernadett Tuza-Ritter mit den zweijährigen Dreharbeiten zu "Eine gefangene Frau" begann, ihrem ersten abendfüllenden Film, wusste sie nichts über das Phänomen der modernen Sklaverei. Allein in Europa soll es Schätzungen zufolge 1,2 Millionen Menschen so ergehen wie der Protagonistin, weltweit circa 45 Millionen. Der Dokumentarfilm macht ihr Schicksal bewusst, indem er sich auf eine einzelne Leidensgeschichte konzentriert. Auf Marish, diese starke und durch und durch verängstigte Frau. Ihr Gesicht wird man so schnell nicht vergessen.

© SZ vom 13.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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