Zum Tod von Michael Gielen:Die Wahrheitsliebe der Musik

Lesezeit: 3 min

Michael Gielen 1999 (Foto: DPA)

Der gebürtige Dresdner Gielen war Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters und galt als einer der wichtigsten Dirigenten der Gegenwart.

Nachruf von Wolfgang Schreiber

Es gibt eine Art Schlüsselmoment im künstlerischen Tun Michael Gielens. Da wagte der Dirigent 1978, gerade Frankfurts Opernchef geworden, zwei große Komponisten miteinander kurzzuschließen: Beethoven und Schönberg. In einem Frankfurter Konzert konfrontierte er das Finale der Neunten, Schillers Ode an die Freude, mit der Auschwitz-Kantate "Der Überlebende von Warschau" - das "Seid umschlungen, Millionen!" mit dem Morden im KZ, dem Todeslied der Juden "Shema Yisroel". Wie kam Gielen zu solch einer Idee?

Gielen, der ungeduldige Intellektuelle am Dirigentenpult, hat sich damals dazu ge-äußert. Das Chorfinale der Neunten sei gleichbedeutend mit dem Rückzug Beethovens von den Idealen der französischen Revolution im Zeichen der Freiheit und Brüderlichkeit. "Wie wurde", fragte Gielen, "aus den revolutionären Ideen des Sympathisanten Beethoven [...] die diffuse Idealität einer Menschenliebe, die im Geist Millionen umarmt, in der Praxis aber alles beim Alten lässt?"

Gielen machte die Frankfurter Oper zum wichtigsten Opernhaus des Landes

Beethovens Kraft der Verinnerlichung sei es gewesen, die "den Vormarsch der Reaktion bis zum Wiener Kongress und zum Biedermeier" reflektierte. Dagegen setzte Gielen Schönbergs "Überlebenden" als Zeichen eines realen Terrors, "eine Musik des Schreckens". Gielen: "In der Welt nach Auschwitz und Hiroshima bleibt Schillers Ode hohl." So gründlich und kritisch kann ein Musiker mit der klassischen Musik umgehen.

Michael Gielen wollte die historischen und philosophischen Hohlräume der Musikwerke, die er dirigierte, befragen. Das gehörte zu seiner künstlerischen Wahr-heitsliebe und brachte ihm zu Recht 1986 den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt ein. Frankfurt war damals sein Wirkungsfeld, die Städtische Oper von 1977 bis 1987 sein Ort als Musikchef. Dank Gielen besaß Frankfurt in dieser Dekade das wichtigste Opernhaus des Landes, eine Hochburg brisanten Musiktheaters mit Regisseuren wie Ruth Berghaus, Axel Manthey oder Hans Neuenfels.

Gielen dirigierte in Frankfurt die großen Opernbrocken - von der "Entführung" über die "Zauberflöte" bis zum "Doktor Faust" und den "Trojanern", hin zum "Parsifal" und dem finalen "Ring des Nibelungen". Musikalisches Theater in geschärften Klangverhältnissen, szenisch emphatisch interpretiert, aufgerissen aus der Tiefe des utopischen Potentials der Stücke. Verdis "Aida" wurde zum - heftig umstrittenen - Glanzpunkt intellektuellen Opernexperimentierens - die berüchtigte Triumphmarschszene zur rabiaten Gesellschaftsanalyse und Revue-Unterhaltung gleichermaßen. Gielen und Neuenfels schrieben Operngeschichte.

In Argentinien lernte Gielen bei Furtwängler

Das alles hatte mit der Herkunft und bewegten Entwicklungsgeschichte Gielens zu tun, der 1927 als Sohn eines jüdischen Opernregisseurs in Dresden geboren wurde. Seinen Weg begann er zeittypisch, im Zeichen von Nationalsozialismus und Exil. Die Familie ging nach Buenos Aires, dem Flucht-Mekka europäischer Künstler. An Jahre des Lernens dort erinnert sich Gielen in seiner Autobiographie "Unbedingt Musik".

In Buenos Aires studiert er Musik und Philosophie, wird Korrepetitor am legendären Opernhaus Teatro Colon, tritt in Kontakt mit Eduard Steuermann, seinem Onkel, dem Schönberg-Pianisten, kommt mit der musikalischen Moderne in Kontakt. Und ist Assistent Wilhelm Furtwänglers bei der Einstudierung der Matthäus-Passion. "In dieser Aufführung unter Furtwängler vergaß man, dass fast alle Tempi verschleppt waren und dass das Stil-Ideal von 1800 stammte - er überwältigte uns." Und Gielen fügt hinzu: "Und das ist ja zugleich etwas, was höchst gefährlich ist." Bitte keine Überwältigung in der Musik!

Einer der gebildetsten Musiker seiner Zeit

Er kehrt 1950 nach Wien zurück, zu Lehrjahren am Pult der Wiener Staatsoper. Gielen wechselt an die Opernhäuser von Stockholm und Amsterdam, dann nach Frankfurt, schließlich, nach der "Ära Gielen" dort, zum Symphonieorchester des Südwestfunks: Donaueschingens Musiktage werden zu seiner Arena des musikalisch Neuen. Die konstruktive Logik und Expressivität der Zweiten Wiener Schule Schönbergs blieb für den Dirigenten Gielen zeitlebens das Modell musikalischer Intelligenz. Es gibt dann Gastdirigate in aller Welt, messerscharfe Klangversionen auf Platten der Beethoven- und Mahler-Symphonien, die Professur in Salzburg. Oder war die Kölner Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Anti-Kriegs-Oper "Die Soldaten" 1960 doch das wich-tigste Ereignis in Gielens Leben als Avantgardist?

Mit seinem schmalen, kantigen Oeuvre in der Schönberg- und Webern-Nachfolge gehörte Gielen als Komponist zur musikalischen Avantgarde. Mit Stücken von poetischer Gedankenbrillanz, darunter ein vom LaSalle Quartet gespieltes Streichquartett. Gielen, einer der gebildetsten Musiker seiner Zeit, war auf dem Notenpapier wie am Pult ein überaus scharf denkender Kopf, diskursiv hellhörig, mit Lust an Sarkasmus und Spitzzüngigkeit. Manche Orchestermusiker fürchteten seine unnachsichtige Strenge. Aber die hatte nicht mit Laune und Willkür zu tun, sondern mit seiner Vorstellung von musikalischer Wahrheit. Auch dafür erhielt er 2010 den großen Siemens Musikpreis. Am 08. März 2019 ist Michael Gielen mit 91 Jahren gestorben.

© SZ.de/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKlassik
:Hemmungsloses Pathos

Calixto Bieito inszeniert Mendelssohns Oratorium "Elias" im Theater an der Wien. Gott zeigt sich hier als der große Fanatiker.

Von Reinhard J. Brembeck

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: