In China findet gerade eine stille Revolution statt: die Abschaffung des Bargelds. An immer mehr Geschäften prangen Schilder mit der Aufschrift "Wir akzeptieren kein Bargeld". Supermarkteinkäufe, Hotelzimmer oder Tankrechnungen bezahlt man per Smartphone-App über mobile Bezahldienste. Wer tanken will, scannt mit seinem Handy den QR-Code an der Zapfsäule und wählt den maximalen Preis bzw. die Tankfüllung aus. In einer Filiale der Fast-Food-Kette KFC können Kunden per Gesichts-Scan bezahlen. "Smile to pay", lächele, um zu bezahlen, nennt der Bezahldienst Alipay das System. Selbst die Geldbuße auf dem Polizeirevier begleicht man via App.
Auch in anderen Ländern wird die bargeldlose Gesellschaft vorangetrieben. Der indische Premierminister Narendra Modi hat die Losung ausgegeben, das Land in eine "bargeldlose Gesellschaft" zu führen. Und dieser Plan wird mit aller Vehemenz verfolgt. Im November 2016 hatte die Regierung Rupien-Scheine mit dem größten Nennwert, den 500- und den 1000-Rupien-Schein, aus dem Verkehr gezogen und rund 86 Prozent des im Umlauf befindlichen Bargelds für ungültig erklärt. Die Bargeldreform löste ein Chaos in dem Land aus: Vor den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, Ärzte weigerten sich, große Scheine anzunehmen, kleineren Geschäfte und Straßenhändlern blieb die Laufkundschaft aus. Kriminelle, die aus Angst, erwischt zu werden, Bargeld gebunkert hatten, warfen säckeweise Geldnoten in Flüsse oder verbrannten die Scheine. Bargeld wurde zum Abfallprodukt.
"Money, Money, Money"? Das Abba-Museum in Schweden akzeptiert kein Bargeld mehr
In Schweden, wo 1661 die "Stockholms Banco" die ersten gedruckten Banknoten in Europa ausgab, werden inzwischen 80 Prozent aller Zahlungen mit Kreditkarte oder kontaktlos mit Bezahl-Apps abgewickelt, etwa mit dem in Schweden entwickelten Transfer-Dienst "Swish", sogar bei Straßenhändlern und auf Bauernmärkten. Das Abba-Museum, der Erinnerungsort jener Popband, die mit dem Song "Money, Money, Money" weltberühmt wurde, akzeptiert kein Bargeld mehr.
Die Gründe für die Abschaffung des Bargelds sind schnell aufgezählt: Illegale Transaktionen könnten aufgedeckt, Steuerbetrug, Geldwäsche sowie die Finanzströme der organisierten Kriminalität und globaler Terrororganisationen ausgetrocknet werden. Mit der Abschaffung des Bargelds könnte man zudem einen Bank Run vermeiden oder Negativzinsen einführen.
Der Ökonom Kenneth Rogoff, der in seinem Buch "The Curse of Cash" für die Abschaffung des Bargelds plädiert, weist darauf hin, dass bei der Verhaftung des Drogenbosses Joaquín Guzmán ("El Chapo") 200 Millionen Dollar in 100-Dollar-Noten gefunden wurden. Das Kreditkartenunternehmen Mastercard hat eine Studie in Auftrag gegeben, die belegen soll, dass Geld dreckig und unhygienisch ist. Auf der Hygieneskala rangiert Bargeld zwischen Türgriffen und Toilettensitzen. Man will Geld somit auch ästhetisch diskreditieren.
Motivationsstrategie:Totale Überwachung? Ein Kinderspiel!
Um infrastrukturelle Probleme zu lösen, setzen Städte vermehrt auf Gamification. Damit wollen sie Bürger spielerisch zu einem besseren Verkehrsverhalten erziehen.
Der Weg in eine aseptisch reine Welt des kontaktlosen Bezahlens birgt allerdings erhebliche Risiken. Denn es droht eine totale Überwachung der Warenströme: Jeder Kauf, jede Überweisung würde gespeichert und könnte zurückverfolgt werden. Die Financial Times hat die Bezahlhistorie einer jungen Chinesin visualisiert: Sonntag, 10 Uhr: 10 Renminbi, mobile Zahlung an die Mutter. 44 Renminbi, Didi Taxifahrt. Montag 9 Uhr: 47,20 Renminbi, Frühstück. 9.30 Uhr: 5 Renminbi, Vormerkung Film. 13 Uhr: 108 Renminbi, Shopping." Das liest sich wie das Protokoll einer Geheimdienstakte.
Der Computerwissenschaftler Paul Armer brachte seine Bedenken bereits im Jahr 1968 in einer Anhörung vor dem US-Senat zum Ausdruck: "Im Extrem würden alle Finanztransaktionen, sogar der Kauf einer Zeitung, das Trinkgeld für den Butler oder die Autobahnmaut, über denselben Mechanismus ohne Bargeld oder einen Scheck abgewickelt." Armer warnte damals davor, dass Dossiers über jeden Bürger erstellt werden könnten.
Zwar werden bei der Kreditkartennutzung bloß Metadaten wie Datum, Ort und Uhrzeit erfasst, doch lassen sich daraus relativ leicht Rückschlüsse auf einzelne Personen ziehen. Ein Forscherteam des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Universität Aarhus, das drei Monate lang die Kreditkartenkäufe von insgesamt 1,1 Millionen Kunden analysierte, fand heraus, dass bereits Angaben zu vier Bezahlvorgängen ausreichen, um 90 Prozent der Personen in einer anonymisierten Liste zu identifizieren. Weiß man zum Beispiel, dass jemand am Montag seinen Kaffee gekauft hat, am Dienstag im Restaurant essen war und am Mittwoch im Kino, kann man diese Finanzdaten eindeutig einer Person zuordnen.
Jede kleine Transaktion landet auf der "Daten-Bank" der großen Unternehmen
Die NSA etwa trackt Kreditkartentransaktionen, um Terroristen ausfindig zu machen. Diese Screenings operieren meist mit einer statistischen Anomalie- und Mustererkennung, auf deren Grundlage ein bestimmtes Gefährdungsrisiko errechnet wird. Etwas zugespitzt: Wer im pakistanischen Telefonnetz geortet wird, nach giftigen Substanzen googelt und einen Wasserkocher bei Amazon bestellt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein Terrorist zu sein, als jemand, der jede Woche in einer Drogerie einkauft. Das Problem ist nur, dass dabei auch unbescholtene Bürger ins Raster der Ermittler geraten und Algorithmen aus vermeintlich harmlosen Datenpunkten Gefährdungen ableiten. Dieser Typus des Gefährders ist nicht sozial, sondern mathematisch konstruiert. Im Konsumkapitalismus fragte man: Wollen Sie noch etwas kaufen? Im Überwachungskapitalismus fragt man: Warum haben Sie das gekauft?
Der französische Philosoph Gilles Deleuze schrieb in seinem "Postskriptum über die Kontrollgesellschaften" (1990), dass im Geld der Übergang zwischen der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft zum Ausdruck komme, "weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit geprägtem Geld stand, zu dem das Gold als Eichmaß gehört, während die Kontrolle auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz der verschiedenen Währungen als Eich-Chiffre einführen". Deleuze sprach von einer "numerischen Sprache der Kontrolle", die aus Chiffren besteht. "Die Individuen sind 'dividuell' geworden und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder 'Banken'."
In der bargeldlosen Gesellschaft zeigt sich die Kontrollgesellschaft im Großen: Jeder Konsument führt mit seinen digitalen Bezahlapparaturen Marktforschung im Auftrag von Unternehmen durch, welche die Daten- und Finanzströme überwachen. Chatten, Daten, Bezahlen - alles wird einer numerischen Rationalität unterzogen. Man ist nur noch eine Nummer im System. Dass die Bezahldienste Google Pay und Apple Pay mit Banken kooperieren und bankähnliche Dienste anbieten und Facebook offenbar Bankdaten seiner Nutzer abfragen will, macht deutlich, dass der Begriff der "Daten-Bank" ein hybrider ist. Im Informationskapitalismus sind Daten Einlagen, und die Zentralbanken, die sie speichern, Konzerne wie Google oder Facebook. Sie wachen über Konten, determinieren die soziale Bonität und führen in Echtzeit Modulationen an digitalen Doppelgängern durch.
Es ist keine Science-Fiction mehr: Unberührbare Menschen werden zu Strichcodes
Die Perversion dieses Kontrollwahns zeigt sich in China: Dort haben Bettler auf der Straße QR-Codes um den Hals hängen, damit Passanten ihnen per mobiler Bezahlung Almosen überweisen können. Als wären Bettler nicht schon marginalisiert genug, werden sie zum Strichcode, den man wie Supermarktware abscannt. Selbst im erniedrigenden Moment des Bettelns muss man sich mit seinen Daten prostituieren. Was wie eine Dystopie aus einem Science-Fiction-Roman anmutet, wird Realität: eine informationelle Kaste der Unberührbaren, die man nicht anfasst, sondern nur noch abscannt.
Das Portal China Channel berichtete, dass viele "QR-Code-Bettler" von lokalen Händlern bezahlt würden, die damit ihr Geschäft promoten. Stichproben in der Pekinger U-Bahn hätten gezeigt, dass bei dem Scan ein anderes Profil angezeigt wurde als die jeweilige Person. Das ändert freilich nichts an dem entwürdigenden Umstand, dass Bettler nur dann eine Identität besitzen, wenn sie mit einem Code per Mobiltelefon auslesbar sind. So scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Wer das Bargeld abschafft, schafft letztlich auch die Menschlichkeit ab.