Die Retrokolumne:Rückkehr nach Katastrophen

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Die Box mit insgesamt 17 CDs ist eine Wundertüte voller unveröffentlichte Schätze von Harry Nilsson. (Foto: Sony)

Harry Nilsson begleitete die Beatles in ihren dunkelsten Stunden, heute ist er zu unrecht vergessen, The Style Council sind natürlich ultra-stylish und Bobby Womacks historische Sammlung funktioniert wie eine kleine Stilschule. Die Retrokolumne - zum Lesen und zum Hören.

Von Joachim Hentschel

Harry Nilsson

Er begleitete die Beatles in ihren dunkelsten Stunden. Stand 1974 Ringo Starr in dessen selbst produziertem Film "Son of Dracula" als Hauptdarsteller bei, soff und spielte Billard mit John Lennon, als der mit 32 seine Lebenskrise hatte. Man kann nur raten, welchen Anteil seines vorübergehenden Erfolges der New Yorker Sänger und Songwriter Harry Nilsson damals diesen Freundschaften verdankte.

Rückblickend jedoch erscheint es völlig unverständlich, wie so oft, warum sein Werk heute so vergessen ist. Weil Nilsson - Enkel schwedischer Zirkusartisten, zärtlicher Borderliner mit breitem Kreuz und hohem Suchtpotential - eben nicht nur einer der vielen Singer-Songwriter war, die in der großen US-Softrock-Ära mit offenem Hemd am Klavier saßen. Sondern ein Stilist und Konzeptdenker, ein früher Eklektiker, der praktisch keine Livekonzerte gab, im Aufnahmestudio aber schon Erkenntnisse über Popzyklen und musikalische Intertextualität entwickelte, die man eher im modernen Independent-Adel à la Jarvis Cocker verortet hätte.

Die Box "The RCA Albums Collection" (Sony) liefert nun auf 17 CDs nicht nur fast alles, was der 1994 Verstorbene je veröffentlicht hat, sondern auch noch über drei Stunden unveröffentlichte Schätze. Viel zu viel auf einmal, aber wahrscheinlich müssen Nilssons Kinderfilm-Soundtracks, Broadway-Derivate, sonderbare Coverversionen und Pop-Opern genau so konsumiert werden: einmal in die Wundertüte greifen. Seine zwei Radiohits "Without You" und "Coconut" sind praktischerweise auf demselben Album, "Nilsson Schmilsson". Auf dem Cover trägt er einen Bademantel.

Blöderweise ist er längst zum historischen Pappheini geworden, der poppige Salonsozialist der Achtzigerjahre, mit weißem Trenchcoat und Gitanes-Schachtel, Roland Barthes in der Kaschmir-Tasche, ironisch gebildet, aber echt wütend. Die Bretterköpfe lachten ja schon damals über ihn, da war es leichter zu ignorieren. Leichter als heute, wo der mittlerweile 55-jährige Paul Weller so rigoros die Rolle des ledrigen Mod-Großvaters spielt, der über die neue Zeit grantelt.

Das Gesamtwerk von The Style Council ist ultra-stylish und enthält auch, das damals nicht veröffentlichte Album "A New Decade". (Foto: Universal)

Allzu naiv sollte man die Wechselwirkungen zwischen Popkultur und sonstigem Weltgeschehen ja auch nicht sehen - aber manchmal wundert es einen schon, dass der ganze, sich verstärkende Zweifel am Kapitalismus und der Freiheit der westlichen Welt so wenig neue Musik hervorgebracht hat. Und dass "Our Favourite Shop" von 1985, das zweite Album von Wellers damaliger Caféhaus-Neo-Soulband The Style Council, immer noch das Nonplusultra in Sachen linkem, systemkritischen Pop ist, Pose hin oder her.

Das Council-Gesamtwerk, ultra-stylish, gibt es nun in einer Schatulle als "Classic Album Selection" (Universal), jede Höhe und Tiefe auf sechs CDs, vor allem auch das seinerzeit der Öffentlichkeit vorenthaltene Dance-Album "A New Decade". Sicher klingt die Platte im Nachhinein wie ein Witz. Aber der Versuch, aus der eigenen Haut in eine neue zu kriechen, ist immerhin besser, als sich dauerhaft ans Jucken zu gewöhnen.

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Unter all den großen Soul-Gentlemen der 60er- und 70er-Jahre war er immer derjenige, der so sehr mit der Rückkehr nach irgendwelchen Katastrophen beschäftigt war, dass er selten einfach nur da war. Erst kürzlich wieder, als Blur-Sänger Damon Albarn den nach einer Drogenphase versackten Bobby Womack an die Hand nahm und mit ihm 2012 - da war er 68 - eine neue, zeitgemäß dunkle Platte machte. Oder, Ende der Neunziger, als alle Studenten sein altes "Across 110th Street" auf CD nachkauften, weil es so schön im Film "Jackie Brown" gelaufen war.

Auch eine historische Sammlung wie "Everything's Gonna Be Alright - The American Singles 1967 - 76" (Charly/Soulfood) gibt es nur, weil Womacks Name zuletzt wieder ein paar Mal zu lesen war. Und natürlich ist das die Essenz, die man am Ende braucht von dem Mann, der weder der Typ für das ganz große Album war noch immer stilsicher. Die Doppel-CD versammelt alle A- und B-Seiten der 25 Singles, die Womack im besagten Zeitraum veröffentlichte, darunter großartige, verlorene R'n'B-Kaffeebonbons wie "Trust Me" von 1967, aber auch eine bescheuerte Version des berühmten "It's All Over Now" im "Ein Bett im Kornfeld"-Stil.

Wie eine kleine Stilschule funktioniert das, wenn man förmlich zu hören glaubt, wie von Song zu Song die Brillenmodelle wechseln, von den Soul-Kassengläsern bis zum Disco-Spiegelmodell. Einem Sänger wie ihm folgt man ja auch blind.

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© SZ vom 30.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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