Eine sexy Neufassung der "Penthesilea" wollte der Regisseur Rudolf Thome Ende der Sechzigerjahre fürs Kino inszenieren, und zwar nicht mit griechischen Amazonen, sondern mit männerfressenden Münchnerinnen. Sprich: Er brauchte Uschi Obermaier.
Eine Geschichte, die Thome auch knapp 50 Jahre später noch mit großer Freude erzählt, braun gebrannt in der brandenburgischen Septembersonne auf seinem Bauernhof, wo er zum Interview empfängt. Das Problem mit der Uschi war, dass sie damals schon in der Kommune I lebte. Und dort betrachtete man Filmemacher weniger als Künstler denn als Kapitalistenschweine. "Also musste ich die gesamte Truppe erst mal zu ihrem Lieblingschinesen einladen, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Da haben die Kommunarden dann beim Essen überlegt, was sie mit den 15 000 Mark Gage von der Obermaier alles machen könnten, denn die sollte natürlich ans Kollektiv gehen. Also durfte sie dann doch drehen."
Die Geschichte über eine Münchner Mädchen-WG, die Männer verführt und umbringt, bis ihnen ein besonders renitentes Exemplar in die Quere kommt, wurde dann unter dem Titel "Rote Sonne" bis heute wohl Thomes bekanntestes Werk, auch wenn er selbst es längst nicht als sein bestes betrachtet. Als der Film 1970 ins Kino kam, schwärmten Kritiker von einem "utopischen Feminismus", andere Zuschauer eher von den kurzen Obermaier-Röckchen, aber ein Erfolg war es allemal. Die etwas überforderten Moralapostel von der FSK schrieben über dieses Mashup aus Heinrich von Kleist und 68er-Anarchismus damals in ihrer Beurteilung, der Film propagiere "eine praktikable Form des Nihilismus". Ergebnis: freigegeben ab 18 Jahren. Aber in der Regel kann man strikte FSK-Urteile als filmischen Ritterschlag verstehen. Spätestens seit diesem Film gehörte Rudolf Thome zu den Stars des jungen deutschen Kinos.
Der Bonus aus heutiger Sicht: Im Vergleich zu so manchem Werk von Fassbinder, Wenders oder Schlöndorff haben "Rote Sonne" und seine anderen Frühwerke - "Detektive" oder "Supergirl" - die Zeit deutlich unbeschadeter überstanden. Während viele Filmerfolge des Autorenfilms der Sechziger- und Siebzigerjahre heute wie biedere Überbleibsel eines längst untergegangenen BRD-Atlantis wirken, sind die alten Thome-Kunststücke mit Marquard Bohm, Iris Berben und Uschi Obermaier immer noch eine große Verlockung.
Als Aschenbecher dient eine alte Filmdose: "Man muss so ein Interview ja auch inszenieren."
Genauso wie die späteren Thome-Filme, die jenseits des konspirativen Schwabinger Kneipenklüngels entstanden, der die Grundlage der Karrieren von fast allen deutschen Regiestars jener Zeit bildete. Thome ging nach seinen Münchenjahren nicht ins Ausland wie Wenders oder Herzog, sondern nach Berlin. Dort drehte er dann "Berlin Chamissoplatz" (1980) mit Hanns Zischler oder "System ohne Schatten" (1983) mit Bruno Ganz - und arbeitete weiter an seiner tragikomischen Kartografie deutscher Städte und Befindlichkeiten.
Die Frage ist deshalb, warum ausgerechnet Thome, der auch in den letzten Jahren noch hübsche Beziehungsstilübungen wie die Dreiecksgeschichte "Das rote Zimmer" (2011) gedreht hat, immer ein bisschen in die zweite Reihe gedrängelt wurde, während die Verehrung für Altersgenossen wie Wim Wenders oder Werner Herzog fast sektenhafte Züge angenommen hat und der einstige Mitstreiter Klaus Lemke weiterhin sein Schwabinger Revier markiert.
In dieser Woche läuft der Dokumentarfilm "Überall Blumen" an, den Thomes ehemalige Mitarbeiterin Serpil Turhan über ihn gedreht hat. Darin berichtet der 77-Jährige von seinem Leid, keinen neuen Film mehr finanziert zu bekommen, weil die Förderanstalten und Fernsehsender ihr Geld lieber in den immer gleichen 20.15-Uhr-Quatsch steckten. 500 000 Euro bräuchte er, um sein Drehbuch mit dem Titel "Überall Blumen" zu verfilmen, nicht mal die Hälfte eines "Tatort"-Budgets. Aber nein. Auch eine Crowdfunding-Kampagne ist gescheitert, dabei ist das Internet sein Forum geworden, seit es das Kino immer weniger ist. Täglich dokumentiert er in einem Blog seine Arbeit und seinen Alltag (www.moana.de). Und gerade hat er seine Autobiografie begonnen. Der richtige Anlass also, den Mann zu besuchen, der sich vor Jahren in die brandenburgische Provinz zurückgezogen hat. "Kommen Sie gern", schreibt Thome vorab per Mail, "und falls Sie einen bestimmten Rotweingeschmack haben, kann es auch nicht schaden, ein, zwei Flaschen mitzubringen."
Der Bauernhof, den Thome kurz nach der Wende gekauft hat und in dessen Renovierung schon diverse Regiegagen aus den letzten zwanzig Jahren geflossen sind, liegt in Niendorf. Von Berlin aus ist man bis dahin an sehr vielen Windrädern und Maisfeldern vorbeigekommen und hat kleine, sehr kleine und winzige Ortschaften durchquert. Der Busfahrer ist ein bisschen aufgeregt, weil in Niendorf "is lang keener mehr ausjestiegen!". Kurz vor der Ortsgrenze gibt es fast ein Verkehrschaos, weil eine alte Frau eine Schubkarre voller Pflaumen über die Straße schiebt. Thomes Grundstück liegt rechts vom Dorfteich, einen Teil des Hofs hat er renoviert, ein anderer dient als Lager für ein Leben voller Filmemacherreliquien. Auch 50 Poster von "Rote Sonne" liegen noch irgendwo auf dem Dachboden. "Die müsste ich mal verkaufen, die sind immer noch ziemlich begehrt", sagt Thome. Er bittet im Innenhof an einer Bierbank unterm Sonnenschirm zum Gespräch. Wespen summen ums Aufnahmegerät, als Aschenbecher dient eine rostige Filmdose. "Man muss so ein Interview ja auch ein bisschen inszenieren!"
Thome raucht gern, und auch ein Rotwein kann trotz der Spätsommerhitze nicht schaden, denn für ihn ist es gegen 15 Uhr ohnehin schon früher Abend. Er steht jeden Morgen um vier auf, dann folgt in der Regel eine lange Fahrradfahrt, um fit zu bleiben. Und dann setzt er sich meist an den Schreibtisch, wo er seit Wochen alte Terminkalender und Notizen für die Biografie durchforstet. "Ich habe so viele Autobiografien gelesen, die meisten sind furchtbar. Deshalb habe ich keine Ahnung, ob mir das überhaupt gelingt."
Wegen Mädchengeschichten ist er einmal ganz und einmal fast vom Internat geflogen
Wenn man Thome aber erzählen hört, von der Kindheit im hessischen Wallau während und nach dem Krieg, von den Internaten, die er nach dem frühen Tod der Mutter besucht hat und von den Mädchengeschichten, wegen denen er einmal ganz und einmal fast von der Schule flog, dann klingt das alles sofort druckreif und aufregend. Oder später das Germanistikstudium in München, das er dann doch nicht mit einer Dissertation abgeschlossen hat, "weil ein Promovierter unter den Jungfilmern war genug, und das war schon Dr. Alexander Kluge."
Dessen Tochter Sophie Kluge wiederum gerade eine Rolle im Film von Rudolf Thomes Tochter Joya gespielt hat, der den Titel "Königin von Niendorf" trägt und daheim auf Papas Hof gedreht wurde. Womit wir, während die Filmdose sich mit Gauloises-Stummeln füllt, bei der zentralen Frage wären: Würde Thome trotz der Frustration der letzten Jahre denn auch selbst noch mal ran, wenn das mit der verdammten Finanzierung doch noch klappt? Die Antwort erstreckt sich etwa über eine halbe Schachtel Zigaretten und beginnt mit einem kategorischen "Ne! Viel zu anstrengend!". Dann geht es um die Autos, die er früher so geliebt hat und auch immer noch liebt, aber nicht mehr fahren will, obwohl das beim Drehen doch so wichtig ist. "Vor einiger Zeit hat mich die Polizei rausgezogen, weil ich zu schnell war. Sie hätten mich gefilmt, haben sie gesagt, ob ich das sehen wolle. Ich hab gesagt bestimmt nicht, ich komm grad vom Film, was glauben Sie, wie anstrengend das ist!"
Die Liste der Gegenargumente und Frustrationsmomente ist nicht gerade kurz. Aber irgendwann, als die Wespen längst abgeschwirrt sind und die Abendsonne den Thome-Hof in ein wirklich abenteuerliches Blutrot taucht, wie man es so oft in seinen Filmen gesehen hat, da sagt er auch: "Jemanden, der den Beruf nicht ausübt, den er liebt, den kannste vergessen, der hat ja nix." Dann steht er flux von der Bierbank auf und zeigt in Richtung Feld hinter seinem Hof: "Schauen Sie gerne Sonnenuntergänge?"