Deutscher Alltag:Berlin, Berlin

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Schön, dass es Berlin gibt. Den Gendarmenmarkt, das Staatsratsschloss und das Auswärtige Amt, in dem man Steinmeiers Versuche erlebt hat, Interviews zu geben, die aus einer Aneinanderreihung dreieinhalbminütiger Denkpausen bestanden.

Kurt Kister

Dieser Tage in Berlin, wo man die Pflicht des Frühstücksdirektordaseins mit dem Angenehmen des Gelegenheitsflaneurtums verbindet. Man läuft also durch jene Straßen, die vor gut einem Jahrzehnt widerhallten von den energischen Schritten des Basta-Kanzlers und seiner journalistischen Nachlatscher, zu denen man selbst in Glanz und Elend zählte. (Es war deutlich mehr Elend als Glanz.)

Ein Spaziergang durch Berlin, man läuft durch die Straßen, die vor gut einem Jahrzehnt widerhallten von den energischen Schritten des Basta-Kanzlers. Dann passiert man das Auswärtige Amt, in dem man auch Joschka Fischers Verkugelung ebenso erlebt hat. (Foto: dpa)

Man beginnt also den Spaziergang am alten DDR-Staatsratsgebäude, das für eine Übergangszeit Schröders Kanzleramt war. An diesem Bau prangt immer noch jener aus dem Stadtschloss expropriierte Balkon, von dem aus Karl Liebknecht 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hatte. In manchen der besonderen Berliner Nächte soll Gesine Lötzsch auf diesem Balkon stehen, weil sie erspähen will, ob möglicherweise einer der Wege zum Kommunismus durch die nur noch als Geist vorhandene Ruine des einst nahe gelegenen Palasts der Republik führt. Als Linkspartei-Chefin muss man schließlich ein besonderes Verhältnis zu Geistern pflegen.

Dann passiert man das Auswärtige Amt, in dem man Joschka Fischers Verkugelung ebenso erlebt hatte wie Steinmeiers Versuche, Interviews zu geben, die aus einer Aneinanderreihung von dreieinhalbminütigen Denkpausen bestanden. Das ist jetzt alles anders. Der gefühlsmäßig immer noch neue Außenminister ist schlank und Denkpausen schätzt er nicht so sehr.

Man strebt weiter, an so manchem Neubau vorbei, der da steht, wo man früher, als man noch rauchte, auf einer Bank saß und bei drei Zigaretten darüber nachdachte, ob die Alternative zu Schröder wirklich Merkel heißen könnte, gar sollte. Während man quer über den Gendarmenmarkt geht, fällt einem auf, dass heute die Alternative zu Merkel eigentlich nur Merkel heißen kann, weil es niemanden gibt, der Gelegenheitsfreunde von Stoiber über Steinmeier und Koch bis hin zu Westerwelle so effizient und zuvorkommend verschleißen kann wie eben Merkel. Wenn man überleben möchte, sollte man Merkel vielleicht lieber zur Feindin haben als zur Partnerin.

Mit diesen Gedanken nähert man sich dem Ziel des Spaziergangs, dem Antiquariat am Gendarmenmarkt. Das ist ein Laden aus der Vor-Internet-Zeit und hoffentlich bleibt er das noch lange. Man ersteht ein rares Verzeichnis der Werke Sven Hedins, einen Alfred-Polgar-Sammelband von 1947 (mit Lizenz der US-Militärregierung) und ein Büchlein aus der Sammlung Insel, 1965 von Joachim Kaiser zum großen Thema "Hamlet, heute" herausgegeben. Das macht einen nahezu froh und man ist plötzlich dankbar dafür, dass es Berlin gibt.

© SZ vom 15.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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