Deutsche Gegenwartsliteratur:Zukunft? Führen wir nicht

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In der Novelle "Widerfahrnis" schließt Bodo Kirchhoff ein Hutgeschäft und einen Buchverlag und setzt seine Erkundungen der Lebenskonfusion reiferer Männer fort. Sie führen ihn auch diesmal nach Italien.

Von Ulrich Rüdenauer

Eine Begegnung, wie aus dem Märchen: Eine Frau klingelt am Abend an der Tür der Wohnung eines Mannes, beide, die Frau und der Mann sind leidgeprüft und ein bisschen ermüdet vom Leben, beide sind sie aufs Engste mit ihrer Vergangenheit liiert, mehr als mit dem Jetzt, sie erkennen sich in ihrer Verlorenheit und beschließen, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt haben, zu zweit eine Reise mit dem Auto zu machen - zunächst nur ins nächste Tal, dann über die Alpen hinweg geht diese Fahrt, nach Italien und immer tiefer hinein in den Süden, wo alle Deutschen und ihre Romanhelden immer schon Trost gesucht haben, weil das Licht ein anderes ist und das Klima, der Wein und das Essen sowieso.

Bodo Kirchhoff ist ein Spezialist für solche Fluchten und unwahrscheinlichen Zusammentreffen. "Die Liebe in groben Zügen", "Verlangen und Melancholie" oder "Eros und Asche" heißen seine zuletzt veröffentlichten Werke, reich instrumentierte, emphatische Bücher über Liebe und Freundschaft. "Widerfahrnis" nennt er sein neuestes, das es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat, eine Novelle, eine Road Novella, wenn man so will, die fast traumhaft beginnt und aus der Welt des Banalen und Bedrohlichen hinauszuführen scheint, um unverhofft mitten in der Gegenwart zu landen.

"Was glauben Sie, warum wir in diesem Auto sitzen, Sie und ich, wegen eines Buchs?"

Mann und Frau also: Er heißt Reither und hat einen kleinen Verlag samt angeschlossener Buchhandlung in Frankfurt geführt. Mit dessen Liquidation und Verkauf hat er Schulden getilgt und sich aufs Land zurückgezogen - weit weg von früheren Idealen, Sorgen, Kämpfen. Sie, Leonie Palm, vielleicht ein bisschen jünger als der nicht mehr junge Reither, hat Schiffbruch erlitten mit einem Hutladen. Für ihre Hüte, sagt die abendliche Besucherin, habe es immer weniger Gesichter gegeben. Leonie Palm - so steht zu vermuten - ist die sich hinter einem Pseudonym versteckende Autorin eines Büchleins, das Reither in die Hände gefallen ist, noch bevor die beiden sich trafen.

Für ihre Hüte habe es, sagt Bodo Kirchhoffs Protagonistin Leonie Palm, immer weniger Gesichter gegeben. (Foto: imago stock&people)

Dieser Text aber wird nicht gelesen, er entsteht auf gewisse Weise erst durch ihre Begegnung. Es ist ein feines, irritierendes Spiel: Die Literatur geht hier dem Leben voraus, aber eher wie ein Omen, eine Beschwörung. Der Zauber entfaltet sich, weil die Worte sich erst noch am Leben entzünden müssen. "Reither wollte das Buch aufschlagen, aber die Palm trat auf die Bremse, sie zog den Wagen nach rechts und fuhr auf den Standstreifen, bremste noch weiter ab und stoppte so ruckartig, dass er mit der Stirn an die Sonnenblende kam; sie machte den Motor aus und die Warnlichter an. Das Ganze kann auch schon hier enden, sagte sie. Was glauben Sie, warum wir in diesem Auto sitzen, Sie und ich, wegen eines Buchs? Glauben Sie das wirklich? Sie nahm sich eine Zigarette, sie nahm auch das Feuerzeug und wandte sich etwas ab. Wir sitzen hier wegen Menschen, die es in unserem Leben nicht mehr gibt oder nie gab, sagte sie, und Reither wollte widersprechen, auch wenn er gar nicht wusste, was sich dagegenhalten ließ, und nur mit rudernden Händen ihre Worte in Zweifel zog, bis sie ihm die Hände in den Schoß drückte. Was glauben Sie, wer wir beide sind? Fast ohne die Stimme zu heben, sagte sie das, die Zigarette dicht am Mund." Wer man zu sein glaubt, das ist eine der Fragen, die dieses tatsächlich anmutig geschriebene, manchmal fast zu erlesene Buch stellt. Das Ich setzt sich zusammen aus Erfahrungen, und das Älterwerden bringt es mit sich, dass diese Erfahrungen häufiger mit Versäumnissen und Verlusten als mit euphorischen Aufbrüchen zu tun haben.

Beide, Reither und Leonie Palm, können ein Lied davon singen, beide tragen an ihren Geschichten. Erinnerungen seien Einflüsterungen, "die einen betören oder mit Schmerz erfüllen oder beides", heißt es einmal. Die Reise, die sie bis nach Catania auf Sizilien führt, ist der Versuch, den schweren Erinnerungen eine leichtere Gegenwart gegenüberzustellen, die Erfahrungsbilanz ein wenig auszugleichen und noch einmal etwas zu wagen.

Hier wird auch eine Liebe im Schnelldurchlauf geschildert: ein gedankenverlorener Aufbruch, toll und ohne Zukunftssorge, immer nur den nächsten Schritt gehend; die Frage, was diese Beziehung sein könnte; schließlich das Einbrechen des Draußen - und das Ende, der Abschied. Die Welt begegnet den beiden bedächtig Liebenden in Gestalt eines verwilderten Mädchens. Es ist plötzlich da, verwahrlost und stumm, und es schließt sich ungefragt dem Paar an - die folgenreichste unerhörte Begebenheit dieser Novelle. Plötzlich wird alles anders, die Reise braucht nun ein Ziel oder zumindest eine Richtung. An dem rätselhaften Mädchen erweist sich die Kraft und die Ohnmacht des Zusammenseins; es hat etwas Verzauberndes oder Verhexendes, man wird aus ihm nicht schlau.

Schon in seinem Roman "Die kleine Garbo" (2006) hat Kirchhoff ein Mädchen in Engelskostüm in Szene gesetzt, um die Lebenskonfusion eines reiferen Mannes auf den Punkt zu bringen. Und auch jetzt hat die namenlose Streunerin kathartische Funktion. Jedenfalls wird sie dazu beitragen, die Vagheit der Situation aufzulösen. Das ist, wie immer bei Kirchhoff, dick aufgetragen und filigran zugleich, mit Bildern, die sich einbrennen, und Erkenntnissen, die aus der Banalität des Erlebens ein wirkliches Sehen machen.

"amavero" - ich werde geliebt haben. Über diesem Buch schwebt das Futurum zwei

"Widerfahrnis" ist schmaler, konzentrierter, vielleicht auch verspielter als die beiden Vorgängerbände "Die Liebe in groben Zügen" und "Verlangen und Melancholie", aber nicht weniger pathetisch in der Evokation großer Momente der Verzweiflung und des Glücks. Die drei Bücher gehören zusammen, weil sie von einem Taumeln handeln, das genauso vom Liebeswunsch wie vom Abschiedsschmerz verursacht wird.

Nicht zuletzt ist "Widerfahrnis" ein Verfallsbuch, es beschreibt den Verfall alter Kulturtechniken (der Hutmacherkunst, der Verlegerei), den Verfall des eigenen Lebens, des eigenen Körpers, und das kurze Aufblühen der Liebe. Reither kommt eine Lektion seines Vaters in den Sinn. Auf einer Wanderung wurde ihm einst, da war er noch Kind, Unterricht im Lateinischen erteilt, und was ihm in Erinnerung blieb, ist die Konjugation "amavero" - ich werde geliebt haben. Das Futurum zwei schwebt über Kirchhoffs Buch; es ist eine schöne, traurige Form.

Das Wort "Widerfahrnis" meint etwas, dem der Mensch ausgesetzt ist, "ohne etwas dafür tun zu können", so hat es der Theologe Wilhelm Kamlah einmal ausgedrückt. Leonie Palms Buch könnte diesen Titel tragen. "Aber Widerfahrnis, das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen."

Zur Widerfahrnis gehört in dieser Novelle auch, dass Reither am Ende Reisende an Bord seines Autos nimmt, denen noch etwas ganz anderes widerfahren ist: Flüchtlinge, gestrandet in Europa. Die drei, eine heilige Familie auf der Suche nach Asyl, sind vielleicht die Zukunft, die Reither und Palm mit ihrem Zuviel an Vergangenheit längst abhandengekommen ist. "Diesen jungen Mann auf der Flucht, den beneidete er um sein Leben ohne Dach und ohne Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand außer Frau und Tochter und dem eigenen Mut."

Hier ist es wieder, das Kirchhoffsche Pathos, das manchmal einen Zug ins Eitle oder Selbstmitleidige bekommen kann. Aber zuweilen eben auch eine Wahrheit in den Figuren berührt.

© SZ vom 31.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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