Deutsche Gegenwartsliteratur:Teufel mit roter Harfe

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Gerhard Falkners Romandebüt "Apollokalypse" bringt den Teufel, die schönen Frauen, junge Künstler und David Bowie zusammen. Unklar aber bleibt lange, für welchen Geheimdienst der Erzähler arbeitet.

Von Jens Bisky

In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch ein wenig früher, ging ein junger Mann aus Franken gegen Mitternacht in die Rote Harfe am Heinrichplatz, Berlin-Kreuzberg, SO 36. Er würde dort, hatten Bekannte, Desperados, ihm gesagt, den Schlüssel zu einer Wohnung bekommen, in der er schlafen könnte. Lieber wäre er bei Henriette geblieben, mit der er soeben gevögelt hatte, aber sie war zusammen mit einem Typen, der Strickmaske und Waffe besaß. Rote Harfe also, das Lokal, in dem Kreuzberg nach Arbeitstag oder Demonstration sich gern erholte. Dort gab ihm "ein kleiner Mann mit fanatischen Augen und einem Gipsfuß" den Schlüssel. "Teufel noch eins", zischte es dem jungen Mann aus Franken durchs Hirn, "hier mischen sich aber die Sphären." Er nannte sich Georg Autenrieth und war längst verloren an die Stadt, in der RAF, BND, Stasi und viele mehr ihre Kreise zogen, die so politisiert war wie keine andere und doch im Windschatten der Geschichte zu liegen schien. Sie bot Zeit und Raum, sich ausgiebig mit dem eigenen Ich zu befassen. Diese Freiheit wird Georg Autenrieth ausgiebig nutzen, er wird sehr viel Sex haben, mit den geheimen Diensten innige Verbindungen knüpfen, sich auf sich selbst einen Reim machen.

Erzählt wird von den heroischen Jahren der Stadt, 1985 bis 1995, es geht um Energien, Kunst, Sex

Ein junger Mann von irgendwo gerät in Berliner Wirrnisse und findet, was man ein Ich nennen mag, er verberlinert seine Jugend - dieser Plot liegt vielen Leben und noch mehr Romanen zugrunde. Gerhard Falkner spielt mit diesem Plot, weitet ihn zur Agentengeschichte, aber das ist nur die eine Seite des Romans "Apollokalypse", realistischer Schein. Hinter dieser Fassade, zu ihrer Aufrechterhaltung wie zu ihrer Zertrümmerung, setzt Falkner eine große literarische Maschinerie in Bewegung: effektsicher, im Gespräch mit der Literaturgeschichte, diese parodierend, fort- und umschreibend.

"Apollokalypse" wird von Georg Autenrieth selbst erzählt, einer unfassbar bleibenden Person, auch wenn sie redet, liebt, trinkt. Wer da eigentlich spricht und wie viele dieser Autenrieth in sich birgt, bleibt das Rätsel, das dem Roman Spannung verleiht. Nicht chronologisch, diskontinuierlich führt der Erzähler, dem man weder glauben noch nicht glauben kann, durch das Berlin zwischen 1985 und 1995. Dazwischen liegt der Fall der Mauer, wovon hier kein großes Aufhebens gemacht wird. West, Ost, mit oder ohne Mauer: Die Geschichte spielt in allen Teilen der Stadt, die Zäsuren setzen die Frauen: Isabel, die Kunststudentin, und Billy, die Bulgarin Bilijana. Beide sind anderen Männern verbunden, als Autenrieth mit ihnen, nacheinander, in eine Zeit der erotischen Raserei eintritt, Isabel dem Künstler Büttner, Billy einem deutschen Militär.

Der Künstler nimmt sich nach faszinierenden Projektideen, Therapie und Psychiatrie-Aufenthalten das Leben, der Militär wird impotent. Im Übergang zwischen den Frauen, den Welten der Kunst und der bewaffneten Organe trainiert Autenrieth das Unsichtbarwerden, erringt sozusagen eine Tarnkappe, wird "Glasmann". Dazu muss er, wie der Roman plausibel macht, nach Steglitz, wohin sonst. Viel Berliner Wirklichkeit ist hier eingefangen, und da von den heroischen Jahren der coolen Stadt die Rede ist, treten Iggy Pop, David Bowie und Martin Kippenberger höchstpersönlich auf. Aber dieser Roman ist keine fiktionalisierte Kulturgeschichte, vielmehr tritt Berlin als Kraftfeld in Erscheinung, werden die Energien, die es durchzucken, gestaltet. Fast ist man enttäuscht, wenn sie dann Namen bekommen, Eros und Thanatos etwa. Im Titel treffen aufeinander Apollo für das Schöne, Calypso für die Verführung und die Apokalypse als zerstörendes und enthüllendes Ereignis.

In dem Langgedicht "Gegensprechstadt - ground zero" hat Gerhard Falkner 2005 schon einmal den Zustand Berlin vergegenwärtigt. Sein erster Roman teilt mit dem Langgedicht den Impuls, urbaner Wahrnehmungsschwäche aufzuhelfen. Dem Städtebewohner wird leicht alles zum Immergleichen, zum Metropolenhaften eben. Vor lauter Fassaden und Straßen und ständig wiederholten Wegen sieht er die Stadt nicht mehr. Um sie erscheinen zu lassen, als Stadt eines bestimmten Tages, einer einmaligen Stimmung, einer unwiederholbaren Konstellation, lässt Falkner seine Protagonisten weit herumkommen, schickt sie nach Amsterdam, New York und Sofia.

Auch dort wird gevögelt. Sex spielt eine Hauptrolle, Falkner kann Akt, Vorspiel, Begehren schreibend nachvollziehen, ohne dabei peinlich zu werden. Dennoch wird der Roman Streit anzetteln: Es gibt darin kaum beiläufige Sätze, der Erzähler ist unglaublich gebildet, er liebt Großmetaphern und Metaphernhäufungen. Das Leben der Figuren wie der Stadt verwandelt sich vollständig in Kunst, der Text zeigt moralischen oder politischen Fragen die kalte Schulter der vollendeten Form. Mag sich die Fraktion derer, die allein karge, unkomplizierte, lebensnahe Romane schätzen, daran stören - Leser werden ihr Vergnügen haben an der Sinnlichkeit der Beschreibungen, an der klugen Komik der Szenen und dem Witz des Erzählers, der seinem Lektor widerspricht oder sich vor seiner Vermieterin rechtfertigen muss und dann Filmskripts erfindet, Kurzgeschichten über Verwandlungen.

Gerhard Falkner, Lyriker und Erzähler. (Foto: Alexander Paul Englert)

Autenrieth hieß der Arzt Hölderlins, die Metamorphosen Ovids grüßen ebenso wie Bulgakows Teufel aus "Der Meister und Margarita", Doppelgänger und andere romantische Motive geistern durch den Text. Keiner wird sämtliche Anspielungen erfassen, aber jeder Leser ein paar. Sie dienen alle dem Ganzen des Buches. An seiner scheinrealistischen Oberfläche wirkt dieser Roman wild, überbordend, rasend. Zugleich aber ist er streng konstruiert. Deshalb gelingen unvergessliche Szenen.

Etwa die einer mehrfach nacherzählten Verführung der Therapeutin, ohne dass die entscheidende Frage eine eindeutige Antwort fände: Haben sie oder haben sie nicht? Die Vorbereitungen zu einem Attentat werden überblendet mit einem Film über die Manson-Family, der gerade im Fernseher läuft. Prügel- und Party-Ereignisse mischen sich mit Kindheitserinnerungen. Wenn man kopfschüttelnd denkt, jetzt verliere sich der Erzähler im Gewühl, muss man sich bald korrigieren, entdeckt Parallelen, Kontraste, Wiederholungen.

Von der Auflösung sei nur verraten, dass es sie gibt. Falkner entwirrt am Ende die Fäden, ohne dabei dem Roman die Spannung zu nehmen. Es bleibt trotz buchstäblicher Auflösung alles in der Schwebe, und zugleich ist der Schluss an den wahrhaft wirklichen Alltag der Stadt zurückgebunden, an den Mann mit dem bunten Turban, der früher am Helmholtzplatz zu treffen war. Beschwingt blickt man noch einmal auf den Anfang, den ersten Satz: "Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten." Die gesamte Apollokalypse ist darin enthalten. In der Geschichte der Berlin-Literatur beginnt mit diesem Roman ein neues Kapitel.

Gerhard Falkner: Apollokalypse. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2016. 432 Seiten, 22 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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