Deutsche Gegenwartsliteratur:Tante mit Turban

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Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer im November 2005 in Darmstadt. (Foto: dpa)

In Brigitte Kronauers Roman "Der Scheik von Aachen" übernimmt sich eine Schwärmerin, ein Zyniker muss Prügel einstecken, und eine Witwe wird lustig. Außerdem ist der Romantiker Wilhelm Hauff mit von der Partie.

Von Jutta Person

Was würde wohl passieren, wenn man diesen Roman rückwärts abspielen könnte wie eine Vinylplatte? Würde "Der Scheik von Aachen" mit teuflischem Gequäke seine geheimen Botschaften selbst entschlüsseln? Wäre der elegante Zyniker von vorneherein als enttäuschter Romantiker enttarnt, die Schwärmerin als gewissenlose Höhenluftberauschte? Wohl kaum, denn eindeutige Botschaften lassen sich den Werken Brigitte Kronauers noch nicht einmal rückwärts ablesen. Die Büchner-Preisträgerin, als ebenso formbewusste wie menschenfreundlich-nichtnaive Erzählerin bekannt, ist auch eine Spezialistin des beiläufigen Einstreuens, der raffinierten Camouflagetechniken - und der Rückseiten-Analyse, die in diesem Roman eine nicht unwichtige Rolle spielt.

Sind Heilserwartungen nicht überhaupt fatal für das menschliche Maß?

Schon als Kind habe sie schrecklich gern geschaukelt, "so hoch, wie es ging, und so tief, wie es ging", bemerkt die Hauptfigur Anita Jannemann einmal wie nebenbei, mitten in einer Erzählung, die sich um ihre Begeisterung für die Bergwelt dreht und um ihren Geliebten Mario, einen Hobby-Bergsteiger, der "Bergluftaroma" verströmt und so kernig-männlich dasteht, dass sich die Balken biegen.

Überhaupt macht die 42-jährige Anita anfangs einen eher blauäugig verstrahlten, um nicht zu sagen: früh verschrullten Eindruck. Für ihre "Großliebe" Mario ist sie aus der Schweiz in ihre Heimatstadt Aachen zurückgezogen, wo sie übergangsweise in einem sonderbaren Devotionalienladen am Dom arbeitet. Samstags besucht sie ihre Tante Emmi, die mit Sherry und Geschichten von einer alles überschattenden Trauer abgelenkt werden will: Ihr Sohn Wolfgang war als Kind tödlich verunglückt, abgestürzt von einer Birke. Der Name Wolfgang ist seitdem tabu: "Schon bei dem Wort 'Hofgang', sogar bei 'Walfang', wurde man rot vor Schreck."

Aber Anita ist nicht nur von Bergfantasien und Operetten, sondern auch von Wilhelm Hauffs Märchen-Almanachen frühkindlich geprägt. Besonders der "Scheik von Alessandria" - das Hauff-Märchen, das sie genau an Wolfgangs Unglückstag gelesen hatte - gibt den erzählerischen Rahmen ab für die Tantentreffen, effektvoll verstärkt von Emmis "orientalisch-landpomeranzenhafter Neigung zu Gepränge, Turbanhüten, Teppichen und Mokkatässchen". Wie der traurige Scheik von seinen Sklaven, so lässt sich Emmi von ihrer Nichte unterhalten, wobei alles verbraten wird, was Anita und Aachen an urban legends hergeben, von ihrem Chef, dem zynischen Antiquitätenhändler Marzahn, über eine Aufführung der Gluck-Oper "Orpheus und Eurydike" bis zur Lebensgeschichte der Astronomin Caroline Herschel - und natürlich bis zu Mario, der Emmi am meisten interessiert.

Grandios, wie Brigitte Kronauer die unterschiedlichen Tonlagen von Tante und Nichte in einer Art Salon-Burleske aufeinanderkrachen lässt: Weil Anita meistens in höheren Sphären schwebt, holt die (bei aller Trauer) ziemlich derbe Emmi sie auf den Boden der Tatsachen und zum zentralen Thema zurück. ",Mario!' ruft die Tante und schleudert den Stock von sich. Anita apportiert." Ganz sachte sollen die Erzählungen der Tante über ihr Unglück hinweghelfen, denn dieser Roman ist auch ein trickreicher Trostbringer - ähnlich wie das romantische Märchen vom Scheik und zugleich fest in der Gegenwart verankert, vom Tablet der techniksüchtigen polnischen Hausangestellten bis zum, tja, facettenreichen Vokabular der Tante ("Häh?"). Emmi gähnt, rülpst und fängt mit ihrer Handgymnastik an, wenn Anitas Geschichten wieder zu gedrechselt ausfallen. Das wirkt, als ob sich die Erzählstimme auch noch die anti-feintuerischen Reflexe des Publikums klug zunutze macht.

Als der vergötterte Mario im Kaukasus abstürzt, wiederholt sich die Geschichte, und mit ihr ein alter Schuldgedanke: Hat Anita durch ihre Heldenverehrung etwas angestachelt, das zum tödlichen Absturz führen musste? Und sind Heilserwartungen nicht überhaupt fatal für das menschliche Maß? Der Fall Mario könnte das bestätigen: Vom Großgeliebten verwandelt er sich posthum in einen Trottel, weil er die Berge bloß als erektile Trophäen gesammelt hat, weit entfernt von den hochfliegenden Projektionen seiner Geliebten.

Der Großzyniker Marzahn bringt Anita die Trottel-These näher: Anders als die Schwärmerin betreibt er das Wechselspiel von Glorifizierung und Verteufelung bei vollem Bewusstsein, er hebt Menschen in den Himmel, um sie dann mit Genuss wieder demontieren zu können. Dieser Formfetischist ist das Opfer seiner jugendlichen Menschenverehrung, die aus Enttäuschung ins Gegenteil umschlug. Selten ist der Zyniker als seidenschlipstragende Type so gut und spöttisch getroffen worden wie in diesem Roman; spöttisch, aber nicht vernichtend, denn für das Auf und Ab des Erzählens haben seine sozialen Phobien einiges zu bieten. Nachdem Anitas Chef von einem fallen gelassenen Günstling verprügelt wurde, geht ihm - in einem etwas zu lang geratenen, fast schon weinerlich zeitdiagnostischen Monolog - ein Licht auf.

Anitas Seelenlage dagegen bleibt vieldeutig. Wenn sie der Tante den Mythos von Orpheus und Eurydike nacherzählt, lässt sie die Liebenden zwar noch gemeinsam aus der Unterwelt nach oben steigen, aber Orpheus dreht sich gar nicht um. Eurydike, den Rücken ihres Mannes stets im Blick, wird plötzlich von einer Ernüchterung und Erkältung gepackt - und dreht selber ab. Kommentar der Tante: "Der sollte froh sein, dass er das hochgestochene Weib los ist. Ein so anziehender Mann!"

Auch Anita hat bald den Rücken eines anderen Mannes im Blick, und der wiederum den Rücken seiner verstorbenen Frau. Die Verluste sind allgegenwärtig in dieser Aachener Kosmologie, und Kronauers Sprachkunst besteht darin, Tragik und Komik subtil zu verzahnen. Die Dinge fangen dabei an zu glänzen, und wie so oft in dieser Prosa wird die Natur zum magischen Theater - wie im zuletzt erschienenen Roman "Gewäsch und Gewimmel" oder den Erzählungen "Die Tricks der Diva". Auch in den Liebesdramen von Tante und Nichte haben Wurzeln "Saugschlünde", und Vögel "flöten wie Ganoven in alten Schwarz-Weiß-Filmen, als trügen sie karierte Schlägermützen auf dem Kopf". Nicht zuletzt geht es auch um den Verlust von Landschaften, um Raubbau und Zerstörung. Ohne wiederum die Natur zur Erlöserin zu verklären, denn von solchen Echtheitsszenarien sind Kronauers durchtriebene Legenden Lichtjahre entfernt.

"Wir wollen bezaubert werden", weiß der gebeutelte Zyniker, der am Schluss überall die Macht der Legende erkennt - oder die menschliche Sehnsucht nach etwas Verborgenem, und sei es der Rücken eines anderen, dem man wer weiß was anheften kann. Diese Rückwärtsbotschaft vom Idealisieren und Dämonisieren, vom gar nicht so leicht durchschaubaren Anhimmeln und Wegstoßen, hat Brigitte Kronauer in einen fantastischen Hochtief-Roman verwandelt.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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