Deutsche Gegenwartsliteratur:Im Zwielicht

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In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen blickt Silke Scheuermann in den Nachthimmel und ins Innere von Lyrik und Prosa.

Von Nicolas Freund

Ohne den Sternenhimmel wäre vielleicht alles ganz anders. Die Autorin Silke Scheuer berichtete in ihrer ersten Poetikvorlesung im Wintersemester 2017/2018 in Frankfurt am Main, wie sie sich einmal als Kind aus dem Bett geschlichen hatte. Eigentlich, um heimlich im Wohnzimmer fernzusehen. Der Fernseher lief aber gar nicht, dafür stand der Vater rauchend auf der Terrasse, über ihm der Sternenhimmel. Sich nicht um die Geheimhaltung der kindlichen Nachtwanderung scherend, stellte sie sich zu dem Vater, der sie überraschenderweise nicht postwendend ins Bett zurückschickte, sondern nur fragte: "Großartig, nicht wahr?" - und dann mit seiner Tochter die Sterne bewunderte.

Dass, wer in den Nachthimmel blickt, in die Vergangenheit schaut, weil das Licht ferner Sterne Millionen Jahre bis zur Erde braucht, hat die junge Silke Scheuermann schwer beeindruckt. So schwer, dass sie Jahre später als Studentin im Waschkeller des Wohnheims dem Physikdoktoranden aus dem Stockwerk über ihr auflauerte, um ihn nach Schwarzen Löchern auszufragen. Sie schrieb gerade an einem Gedicht von dem sie dachte, ein Schwarzes Loch würde ihm guttun.

Dante Alighieris "Göttliche Komödie" endet mit den Sternen und Hans Blumenberg hat über die Formulierung "die Sterne stehen vollzählig überm Land" sehr viele Seiten lang nachgedacht. Scheuermanns Vorlesungen folgen aber nicht solchen ausgetreten Pfaden, wie man sie nach den Schilderungen ihrer biografischen Anekdoten erwarten könnte. Ihre Vorlesungen wirken gegen die poetischen und theoretischen Kunststücke mancher Autoren angesichts des Sternenhimmels wie das reine Understatement. Ganz beiläufig im nettesten Plauderton über ihren Hund und die Nachttankstelle reißt Scheuermann in den drei Texten Themen wie die Darstellung der Wahrnehmung von Tieren oder das poetische Verfahren des Bewusstseinsstroms an; Themen, mit denen sie sich in ihren Gedichten und Romanen auseinandergesetzt hat.

Ihr Pendeln zwischen Lyrik und Prosa skizziert sie als dialektisches Verfahren: Den Gedichten gehört die Nacht, den Romanen der Tag, aber das, worauf es ankommt, findet zwischen beiden statt. "Halbwelt, zwielichtige Gestalten, Nachtschattengewächs" oder "Lichtverschmutzung" fallen der Dichterin ein.

Da ist wieder dieses Understatement. Eigentlich geht es Silke Scheuermann hier um die Welt und deren Darstellbarkeit, um Wirklichkeit. Ein zentrales literarisches Problem. Ob denn die Physiker glaubten, dass sich mit ihrer Wissenschaft alles erklären ließe, fragt sie den Doktoranden. Natürlich glauben sie das nicht, mit dem Wissen wachse auch immer das Nichtwissen. Wie Tag und Nacht sind die beiden nicht so einfach voneinander zu trennen. Und das, worauf es ankommt, findet dazwischen statt. Aber das sagt Silke Scheuermann natürlich nicht einfach so.

Silke Scheuermann: Gerade noch dunkel genug. Frankfurter Poetikvorlesungen. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 136 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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