Der Philosoph der Freiheit:Der Maulwurf  im Talar

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Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2019. 824 Seiten, 34 Euro. (Foto: N/A)

Die Rechtsphilosophie als Kassiber an Freiheitsfreunde und Republikaner: Klaus Viewegs große Hegel-Biografie entdeckt im preußischen Staatsphilosophen den Erben der Französischen Revolution.

Von Thomas Steinfeld

Die Zeiten sind dem Philosophieren nicht günstig. Im Angesicht der kommenden Katastrophen verblassen die Gedanken. Wer wollte Erkenntnistheorie treiben, wenn der Untergang nahe ist? Wer die Ideale der parlamentarischen Demokratie erläutert bekommen, wenn doch eine ökologische Diktatur das Gebot der Stunde zu sein scheint? Wer das Weltwissen beschwören, wenn das Höchste, das der Verstand zu ergreifen imstande sein soll, aus Blasen oder Metapherngewölk besteht? Und wer dennoch das Philosophieren noch nicht eingestellt hat, der bekommt es mittels Versprechen zur Selbstoptimierung und Hilfsangeboten bei der Sinnsuche ausgetrieben.

In einer solchen Lage erscheint ein großes Buch, das sich dem idealistischen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zuwendet, zumindest als etwas Fremdes. Es tut es umso mehr, als das Werk dieses Denkers wie ein einsames Monstrum in der Geschichte der Philosophie herumzustehen scheint, als ein Monolith zudem, dem man sich nicht gern nähert. Hatte Hegel nicht darauf bestanden, Philosophie als Wissenschaft zu betreiben, zumal als eine Wissenschaft von allem, buchstäblich und systematisch? Heißt Wissenschaft nicht, auf Fortschritten der Erkenntnis zu bestehen? Und ist Fortschritt nicht eine Errungenschaft, die man zuallerletzt mit Philosophie verbände?

Belastet ist die Erinnerung an Hegel zudem durch zwei politische Hypotheken, die sich auch noch zu widersprechen scheinen: Karl Marx hat sich auf Hegel wie auf einen Lehrer berufen, nicht zuletzt, indem er beanspruchte, diesen "vom Kopf auf die Füße" zu stellen. Zugleich heißt es immer wieder über Hegels "Rechtsphilosophie" aus dem Jahr 1820, in dieser verberge sich eine Apologie des preußischen Staats.

Klaus Viewegs Buch "Hegel. Der Philosoph der Freiheit" ist eine Biografie, so vollständig, wie es noch keine Biografie zuvor war. Dabei scheint sich dieser Philosoph den Lebensgeschichten nicht anzubieten: Die bislang jüngste, von Horst Althaus verfasst, erschien im Jahr 1992. Die von Karl Rosenkranz, einem Schüler Hegels, im Jahr 1844 verfasste Lebensgeschichte ist unter den älteren Biografien immer noch die lesenswerteste. Ein aufregendes Leben führte Hegel gewiss nicht. Doch immerhin kann Vieweg dem Vorurteil entgegentreten, es sei darin, außer Denken, nur wenig geschehen.

Zugleich aber ist Viewegs Werk viel mehr als eine Biografie, nämlich eine Einführung in Hegels Philosophie, die, ihrem Gegenstand gemäß, entwicklungsgeschichtlich angelegt wird. Der Leser bekommt also einen Abriss geboten, der die Architektur eines großen und komplizierten Baus von den ersten, rohen Skizzen bis zur Inneneinrichtung der fertigen Anlage beschreibt. Biografien von Gelehrten oder Künstlern dienen oft der intellektuellen Ermäßigung. Wenn der Kopf sich nicht anstrengen will, soll der Verweis auf das Leben genügen. Es ehrt den Autor und seinen Verlag, dass sie sich auf solche Bequemlichkeiten nicht einlassen.

Klaus Vieweg hat indessen, wenn er Leben und Werk Hegels schildert, auch Höheres im Sinn. Offensichtlich ist er selbst ein Hegelianer, und zwar in einem emphatischen, positiven Sinn. Deshalb endet der Abriss zur Entwicklungsgeschichte der Philosophie Hegels mit einer Skizze der Philosophiegeschichte überhaupt. Sie erstreckt sich von der griechischen Antike, die begann, das Denken zu denken, über den Mystiker Jakob Böhme, den "ersten deutschen Philosophen", bis zum jungen Schelling, bei dem zum ersten Mal Subjekt und Objekt als etwas Identisches erscheinen. Die Geschichte der Philosophie endet, selbstverständlich, bei Hegel, dem Verfasser einer nicht zu überbietenden Philosophie der Freiheit. Diese, schreibt Klaus Vieweg, "ist ein Recht an und für sich, ewig unantastbar". An dieser Stelle ist, wie in mehreren Passagen dieses Buches, nicht mehr deutlich zu trennen, wer da spricht: der Philosoph oder sein Biograf.

Freiheit? "Eben dies, in seinem anderen bei sich selbst zu sein, von sich abzuhängen, das sich Bestimmende seiner selbst zu sein."

Unter "Freiheit", so wie Hegel das Wort versteht, ist allerdings mehr und auch anderes zu fassen als die bürgerliche Freiheit, so wie sie sich im Recht auf Eigentum, in der Möglichkeit, sich eine Regierung zu wählen, oder in der Meinungsfreiheit dokumentiert. "Freiheit", schreibt Hegel in seiner "Enzyklopädie", sei "eben dies, in seinem anderen bei sich selbst zu sein, von sich abzuhängen, das Bestimmende seiner selbst zu sein".

Gemeint ist damit auch das Verhältnis des Denkens zu seinem Gegenstand: Wenn es diesen vollständig durchdrungen hat, dann ist dieser Gegenstand ganz im Denken aufgehoben und dieses folglich bei sich selbst. Man kann über diesen Gegenstand frei verfügen, im eigenen Kopf. Freiheit und Wissen sind insofern zwei Seiten desselben Verhältnisses, was unter anderem dazu führt, dass, Platon, Jean-Jacques Rousseau und Friedrich Nietzsche zum Trotz, Hegel bis auf den heutigen Tag der interessanteste aller Philosophen ist. Hegel weiß unendlich viele Dinge. Man kann sich von ihm erklären lassen, was ein Vertrag und was Arbeit ist, er kennt sich in der Geometrie ebenso aus wie in der Architektur griechischer Tempel, und wie Familie und "Katzenjammer" zusammengehören, das weiß er auch.

Im Tübinger Stift, in den späten Achtzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts, lebte Hegel in einer Stube zusammen mit Friedrich Hölderlin und Friedrich Schelling. Letzterer wurde, obwohl jünger als Hegel, schon 1798 Professor für Philosophie in Jena, mit erst 23 Jahren. Friedrich Hölderlin zog nach Beendigung seines Studiums durch ein paar Anstellungen als Hauslehrer und verschwand dann in der Obhut seiner Pfleger. Hegel indessen ging einen langen Weg durch die intellektuellen Berufe, vom Hauslehrer in Bern und Frankfurt zum Privatdozenten in Jena, vom Journalisten in Bamberg zum Schulrektor in Nürnberg, und erst dann zum Professor, zunächst in Heidelberg und erst ab 1818, im Alter von fast fünfzig Jahren, an die kurz zuvor gegründete Universität zu Berlin. Klaus Vieweg beschreibt diese lange Wanderung auch als einen Weg durch das praktische Wissen, nicht zuletzt im Hinblick auf Staats- und Gesellschaftsordnungen. Zugleich insistiert er darauf, dass Hegel nie von seiner Bewunderung für die Französische Revolution abließ. Mehr noch: Seine gesamte Philosophie sei Ausdruck eines Rechtsbewusstseins, wie es erst entfalteten bürgerlichen Verhältnissen zugehöre.

In dieser Biografie erscheint Hegel als ein zuallererst politischer Philosoph, der auch dann, als er längst als preußischer Staatsphilosoph betrachtet wurde und auch in diesem Sinn zu agieren schien, seine republikanische, universalistische Gesinnung nicht preisgab.

Klaus Viewegs Biografie ist also ein Versuch zur Richtigstellung. Der Versuch beginnt im Persönlichen und Privaten, damit etwa, dass Hegel ein geselliger und unterhaltsamer Mensch gewesen sein muss, der Oper, der Kunst, allfälligen Unterhaltungen und dem Wein mehr als nur leichthin zugetan. Und er zielt hinauf bis in die "Rechtsphilosophie" mit dem berüchtigten Satz: "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig", der oft als Verklärung eines Obrigkeits- und Polizeistaates gelesen wurde.

"Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich, was existiert."

Um die Formel richtig zu verstehen, meint Klaus Vieweg, müsse man einen anderen Satz hinzuziehen, der sich in der Nachschrift zu einer Vorlesung findet. Dort heißt es: "Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich, was existiert." Was, so wie der Biograf diese Passagen liest, bedeuten würde, dass es im Staate Preußen durchaus auch unvernünftig oder besser: unphilosophisch zugehen konnte. Vieweg kennt eine Reihe solcher Stellen, in denen sich, seiner Ansicht nach, wohlbedachte Kassiber verstecken. So verwandelt sich der Rektor der Berliner Universität in einen politischen Maulwurf, der sich hauptsächlich aus lebenspraktischen Gründen einen Talar umwarf.

Idealismus wäre das Letzte, was man Hegel absprechen könnte. Ob dieser aber, auch wenn er, wie Vieweg berichtet, von der Geheimpolizei beobachtet wurde, ein politischer Idealist war, erscheint indessen zweifelhaft. Ist der erste Teil jenes berüchtigten Satzes nicht schlicht eine Kritik an einer Philosophie, die noch nicht Wissenschaft ist: in dem Sinne, dass Gedanken eine Wirklichkeit zu erfassen haben? Und ist der zweite Teil jenes Satzes nicht der Versuch, die Philosophie als Organ des Weltwissens zu etablieren? Nicht die Politik oder gar eine politische Umgestaltung des Gemeinwesens wäre mithin das höchste Interesse der idealistischen Philosophie, sondern die Ausgestaltung eines philosophischen Universums.

Dieses Ineinander einer Philosophie, die Wissenschaft sein, und einer Philosophie, die ihr höchstes Interesse an sich selber finden soll, ist Ausdruck einer historischen Situation, wie sie vermutlich nur wenige Jahre bestand. Noch gab es, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Republik der Gelehrten, die, getrennt von den Sphären der Macht, einen freien Austausch der Gedanken unter Gleichen betrieb. Zugleich aber war mit der Berliner Universität die erste moderne Hochschule entstanden, die als Bildungseinrichtung einer ganzen Gesellschaft fungierte und bald auch die Philosophie in eine spezielle Disziplin verwandelte - getrennt vom positiven Wissen, das die Philosophie bei Hegel erfüllt, und, als Denken des Denkens, hauptsächlich sich selbst zugewandt.

Man versteht Viewegs Enthusiasmus für eine solche Philosophie in "allgemeiner Freiheit", wie sie den Endpunkt des Hegel'schen Denkens gebildet haben soll. Aber man zögert, ein solches Ende, gar in Gestalt eines beginnenden "Zeitalters, in dem der Mensch schlechthin, jeder Mensch Hegel zufolge als ,neuer, höchster und letzter Heiliger' gilt", für erreicht oder auch nur erreichbar zu halten, von der Wünschbarkeit solcher Verhältnisse ganz abgesehen. Doch auch wenn man diesen Umschlag ins Weltanschauliche nicht teilen mag, ist diese Biografie ein beachtliches und erfreuliches Werk: nicht nur eine lebendige Erinnerung daran, dass das Denken einst hätte helfen können sollen, sondern auch die Rückforderung einer Philosophie, die etwas anderes und mehr sein will als Moral, Lebenshilfe und persönliches Sinnversprechen.

© SZ vom 26.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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