"Der Avantgartainer":Weltuntergang ohne Musik

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Steffen Schleiermacher: Der Avantgartainer. Texte und Gespräche. Hrsg. von Olaf Wilhelmer. Kamprad, Altenburg 2020. 224 Seiten, 34,90 Euro. (Foto: N/A)

Der avantgardistische Allrounder Steffen Schleiermacher versammelt Texte und Ideen.

Von Wolfgang Schreiber

De Berufsbezeichnung gehört in die Kiste der Wortwitze, der "Avantgartainer" ist ein Kalauer. Es dennoch sein zu können, heißt für Steffen Schleiermacher, Pianist, Komponist und Dirigent, Ensemblegründer und Moderator, die Avantgarde mit dem Entertainment zu verkuppeln. Was sich ein Musiker leisten kann, der "mit Lust am Abseitigen, Grotesken und Provokanten" jongliert und nie vergisst, "dabei stets ein Publikum im Blick" zu behalten. So hat es der Kulturjournalist Olaf Wilhelmer herausgefunden.

"Natürlich bin ich oft gebannt von den großen Werken der Vergangenheit", kann der Avantgardist zugeben, "aber es ist die Frage, wie sich dies äußert: Ist es ein Bann im Sinne von Bewegungslosigkeit oder ist es ein Bann, der eigene Kreativität freisetzt?" Schleiermacher, 1960 in Halle an der Saale geboren, hält sich seit seinen Anfängen lieber an das "Eigene", er sagt das im zweiten der insgesamt zehn, zwischen seine Texte eingeflochtenen Gespräche mit dem Debattenpartner.

Die lockere Dramaturgie des Buchs erschließt sich von Beginn an, steckt schon in einer spleenigen Einleitungslitanei, genannt "Aus dem Tagesablauf eine klavierspielenden Komponisten". Schleiermacher huldigt da seiner Schreibpedanterie, bietet dem Leser den kleinteiligen Ablauf während vier Stunden eines Tages im Jahr 2004. Die Auflistung seiner Telefon- und Mailkontakte für eine Konzertorganisation ergibt einen Haushaltszettel absurder Kommunikationshektik: Es überstürzen sich minütlich die Zu- und Absagen von Trompetern, Hornisten oder Klarinettis-ten, verhandelt werden muss mit dem Hotelpersonal. Es gibt Eintragungen wie: "Gang zum Briefkasten, Einwurf des Umschlags mit der Trompetenstimme". Das ist beißende Realsatire, die Mixtur von business as usual, genial musikantischer Umtriebigkeit und Masochismus.

Wenn man nicht zufrieden ist, muss man es halt selbst machen

Im Trubel der vielen Interessen und Aktivitäten scheint ihm Intensität und Konzentration nie abhanden zu kommen. Und er ist ein selbstkritischer Beobachter seiner eigenen künstlerischen Handlungen, genauso des ein-heimischen wie des internationalen Konzertbetriebs. Die Gespräche sind ein Feuerwerk kritischer Ideen. Dabei will der Praktiker sich nicht mit der Kritik an den bestehenden Musikmechanismen begnügen, sondern: "...wenn man nicht zufrieden ist, muss man es halt selbst machen. Ob es dadurch besser wird, ist natürlich eine ganz andere Frage".

Schleiermachers Buch lebt aus der Vielfalt seiner fesselnden Gedanken, Statements, Erlebnisse und Musikabenteuer, von Texten und Bildern seiner Er-fahrungen in den Jahrzehnten in Ost- und Westdeutschland.

Seit langem in Leipzig beheimatet, gehörte er nicht zu den internationalen "Staatskünstlern" der DDR, wie Peter Schreier oder Kurt Masur, aber er hatte sich dort die schwierige Eigenständigkeit im Umgang mit dem behördlich gelenkten Musikbetrieb wie mit der globalen Musikavantgarde erobert. Immerhin ließ man ihn nach Köln fahren, wo er beim Avantgar-de-Papst des Klavier, Aloys Kontarsky, hinreißend beschriebene "musikalisch-kulinarische Lektionen" erhielt. Die Texte und Gespräche Schleiermachers bezeugen seine ästhetische Nähe zu John Cage, Karlheinz Stockhausen oder Phil Glass, und er beschreibt seine bei aller Hochachtung kritische Haltung etwa zur Figur des Dirigenten Kurt Masur. Es gibt Erinnerungen an die ihn freundschaftlich lehrenden Komponisten Friedrich Goldmann (mit der Direktive etwa: "Der Weltuntergang findet ohne Musik statt") oder Friedrich Schenker, an den Besuch der legendären Darmstädter Ferienkurse 1986. Es gibt starke Gesprächeinwürfe zu Hanns Eisler und Pierre Boulez, zu Bach und Beethoven, Messiaen und Rihm und vielen Anderen.

Die intensive Beschäftigung mit der Wiener Schule Schönbergs, der sowjetischen und amerikanischen Avantgarde, der "Darmstädter Schule" wird in den vielen Tonaufnahmen des Pianisten Schleiermacher und in den Gesprächen lebendig. Im so extrem weitgespannten, unkonventionellen musikalischen Weltbild erscheint die Musik des bizarren Melancholikers Erik Satie als ein existenzielles Statement. Schleiermacher, der Unangepasste, hat sie integral eingespielt. Und plötzlich wird sogar der Kalauer des "Avantgartainers", Schleiermachers Nähe zu dem einsamen Clown Satie als einem seiner Ahnherren, plausibel.

© SZ vom 06.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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