Den Teufel malen in diesen Zeiten viele an die Wand, sie sehen die Demokratien abstürzen, um früher oder später tief unten zu landen in einem autokratischen Regime wie Putins Russland oder Erdoğans Türkei. Sehr viel wirklichkeitsnäher ist aber doch die Gefahr, dass westliche Demokratien sich nicht aufgeben, sehr wohl aber ihren liberalen Geist. Mit unverhohlenem Sündenstolz machen es in Europa vor allem Polen und Ungarn vor. Illiberale Demokratien sind aber nicht einfach hybrid oder janusköpfig, sie sind ein Staat im Staat.
Das klingt so folgenschwer, wie es ist. Jede illiberale Regierung sieht sich als vom Volke berufener Verteidiger der von inneren Feinden bedrohten Nation. Wegen des Ernstfalls erhält sie autoritäre Sonderrechte: Sie darf sich über die Verfassung erheben ("über dem Recht steht das Wohl des Volkes", beteuerte man im polnischen Parlament), darf die drei Gewalten auf den gemeinsamen Feind einschwören und darf Andersdenkende, Illoyale und Nichtdazugehörige politisch disqualifizieren. Sie lenkt die Demokratie mit der Vollmacht, mit der ein Vormund sein Mündel lenkt. Jürgen Kaube hat einmal den Begriff "absolutistische Demokratie" geprägt. In der Tat errichten die weißen Ritter des Volkes im demokratischen Gewand einen vormundschaftlichen Volksabsolutismus.
Erst das 21. Jahrhundert bringt dieses spezielle System demokratischer Durchgriffsmacht hervor. In der ersten Fassungslosigkeit nach Trumps Wahlsieg fiel der böse Ausdruck "Faschismus ohne Schwarzhemden". Doch für die USA stimmt das sicher nicht.
Es stimmt aber auch nicht für die Demokratien, die bereits autoritär geführt werden wie eben Polen, Ungarn oder Venezuela. Auch wenn dort ein nationaler Chauvinismus seine hässlichen Blüten treibt, lässt sich der neue Machttypus schwerlich als weißgewaschener Faschismus begreifen, der Staat und Gesellschaft totalisiert. Auf eine kurze Formel gebracht ist die illiberale Demokratie ein Volksstaat im Rechtsstaat.
Bizarr ist die Pointe: Unisono behaupten alle populistischen Machthaber, dass sie nur das verhasste, volksfeindliche "System" oder "Establishment" ablösen. Damit unterstellen sie, dass das bisherige Establishment seinerseits eine angemaßte Hegemonie, ein Elitenstaat im Staate war. Tatsächlich kehren sie den Spieß einfach um, indem sie den von ihnen bekämpften illegitim-elitären Staat im Staat durch einen neuen, jetzt aber legitim-volkseigenen Staat im Staat ersetzen. Wir sind, verkündet ihre Heilsbotschaft, die Feinde der Volksfeinde und müssen deshalb die demokratische Gewalt monopolisieren.
Ein solcher "Staat im Staat" bedeutet also nicht, dass es verschwörerisch zugeht, etwa im Sinne eines "deep state" oder gar im spirituellen Sinne eines "geheimen Deutschland" wie bei Stefan George. Nein, hier ziehen die Volksherrscher die Fäden auf offener Bühne. Dass dies in Europa zuerst Orbán und Kaczyński in ihren noch sehr unerfahrenen Demokratien gelang, ist kein Zufall. Aber die politische Palette reicht natürlich bis hin zu Trump. Auch wenn die amerikanische Opposition und Zivilgesellschaft bei weitem nicht bezwungen sind, hat er jetzt wieder, als er die unabhängigen Medien als "Feinde des Volkes" diffamierte, die Marschrichtung geradezu musterhaft bestätigt.
Längst erfahren wir aber auch in unseren halbwegs intakten Demokratien, wie stark die Versuchung der Illiberalität ist und wie sie in Gedankengut und Agenda auch der etablierten Parteien eindringt. Trotzdem ist das nicht zu vergleichen mit den autoritären Verhältnissen in Osteuropa. Allerdings gibt es hinter den evidenten Übeln der illiberalen Regime noch weitere Pathologien, die nicht ganz so offensichtlich, aber besonders ansteckend sind, auch hierzulande.
Die Politik als vermeindlicher Feind der Souveränität
Vor allem eine Anomalie ist sehr beunruhigend. Sie hat der britische Politikwissenschaftler William Davies zwar am festgefahrenen Brexit-Streit diagnostiziert, aber sie macht sich überall geltend, wo Demokratien nationalistischen und autoritären Trends folgen. Politische Konflikte könne man hier, sagt Davies, kaum noch konstruktiv austragen, weil sich etwas sehr viel Grundsätzlicheres geändert hat, nämlich die "Natur der politischen Macht selbst". Zur Debatte stehen nicht mehr wie gewohnt politische Alternativen, zur Debatte steht in Wahrheit nur die fundamentale Alternative: Souveränität oder Politik. Und genau dieses absolut sinnwidrige Entweder-Oder zwischen Souveränitätsverlangen und Politikmachen ist es, das die Lenkung des Volksstaates im Staat dominiert - und lähmt.
In der Tat fokussieren sich die autoritären Volksherrschaften ja derart monomanisch auf nationale Autonomie und Identität, auf den Schutz der Grenzen und die Abwehr alles Fremden, als gäbe es keine anderen Anlässe mehr für Einsatz und Engagement. Dabei spielt es keine Rolle, ob die autoritären Machthaber selbst besessen sind von der Mission nationaler Souveränität oder ob sie nur (man denke an den Opportunisten Orbán) so tun als ob.
Insbesondere charismatische Autokraten haben es in der Hand, wie stark die Souveränitätsmanie angefacht wird. Dass hier oft selbst der schlichteste politische Realismus auf der Strecke bleibt, schadet den Charismatikern nicht, denn nationale Souveränität ist, zumal in Zeiten der Globalisierung, zuallererst gefühlte Souveränität. Wie auch immer, gewöhnliche Sachpolitik findet keinen angemessenen Platz mehr.
Bei radikalen Souveränitätsverfechtern kann das so weit gehen, dass sie die übliche Politik nicht nur gering schätzen, sondern vollends zur Sphäre des Feindes rechnen. Kurz nachdem Steve Bannon im Weißen Haus in Trumps Beraterteam eintrat, sprach er sich dafür aus, dass das neue Kabinett den "regierenden Staat beseitigen" werde. Alle herkömmliche Politik, besagt dies, unterliegt dem Verdacht, stets von den Kräften der Volksfeinde durchdrungen zu sein. Vor allem jedoch lenkt sie nur die Kräfte ab von der herkulischen Aufgabe, die nationale Größe und Unabhängigkeit wiederzuerlangen.
Aber selbst sinistre Souveränitätsapostel wie Bannon spielen bei allem Fanatismus nur auf eine reale Entwicklung an, die ohnehin unübersehbar ist: die fortgeschrittene Schrumpfung, um nicht zu sagen Selbstverzwergung demokratischer Politik. Es geht nicht nur um neoliberale Deregulierung. Es geht darum, dass so gut wie keines der drängenden Probleme mehr angegangen, geschweige denn zielführend bewältigt wird.
Europa liegt im Argen, kein Regierungschef (mit Ausnahme Macrons) tut was; das Klima erwärmt sich mit verheerenden Folgen, eine wirksame Kehrtwende wird nicht eingeleitet; die extreme ökonomische Ungleichheit und dramatische Spaltung der Gesellschaft wird hingenommen wie eine Naturgewalt; die marode Infrastruktur löst Achselzucken aus wie auch der Wohnungsnotstand; an die Big-Data-Industrie, die außer Kontrolle geraten ist, wagt sich oder will keiner ran; und so fort.
Jeder kann den Katalog der Miseren herunterbeten, an der politischen Passivität ändert das nichts. Mit welcher Passion wird dagegen um Grenzschutz, Transitlager, Heimat und Überfremdung, Burka und Leitkultur gerungen, werden gravierende Beschlüsse gefasst, Etats gewährt, Koalitionen gebildet oder gesprengt? Hier scheinen Energie und Entschlossenheit unbeschränkt, dort herrschen Apathie und taktierende Verwaltung. Die eine Seite brüstet sich mit dem guten Gefühl der Tatkraft, die andere plagt das schlechte Gewissen der Antriebsschwäche.
Liberale Demokraten sollten sich nicht mehr klein machen
Es gehört nicht viel dazu, in der fatalen Alternative Souveränität versus Politik das Gefälle des Volksstaates im Staat zu erkennen, gerade auch, was die Gestaltungsenergie oder -lethargie betrifft. Dem Volksstaat gehört das Herz des Kollektivs, das ihm alle Macht und alle Loyalität zubilligt. Dem restlichen demokratischen Staat bleiben, mehr oder weniger entmachtet, nur der politische Verstand und die Achtung vor dem Recht. Doch mit Vernunft und Recht lässt sich argumentieren und einklagen, nicht aber emotional überwältigen, aufrühren und mobilisieren. Eine heillose Trennung.
Wie gesagt, diese krasse Asymmetrie, so modellhaft wie sie hier beschrieben ist, gilt nur für voll autoritär geführte Demokratien. Doch sie färbt inzwischen mächtig auch auf Demokratien ab, die wie die deutsche noch recht stabil, aber eben auch befallen sind vom nationalistischen Fieber oder, je nachdem, von nationalistischen Ängsten. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass man auch hier, sobald es zu irgendeinem gestalterischen Showdown kommt, mit dem Souveränitätsjoker leicht jeden Gegner schlagen kann, der nur ein gewöhnliches politisches Blatt in der Hand hat.
Welche Gesellschaft also nicht mit dem Spiel, in dem die Politik stets das Nachsehen hat, die Zukunft verspielen will, muss sich von der irrationalen Alternative Souveränität oder Politik lösen. Es ist ja genau umgekehrt, nur zupackende Politik vermeidet Souveränitätsverluste. Schließlich behauptet nur der sich selbst, der all die wirtschaftlichen, technischen und demografischen Zäsuren, disruptiven Neuanfänge und Wenden so mitgestaltet, dass er nicht von ihnen überrollt wird. Lautet so nicht die Definition von Souveränität? Vorausgesetzt ist natürlich, dass liberale Demokraten sich in ihrem Staat politisch nicht mehr so beschämend klein machen, sondern sich wieder seiner bemächtigen.