Der Influencer als Rollenvorbild hat sich auf dem postmodernen Heldenpantheon gut etabliert. Zahlreiche Filme, Bücher, Serien und Enthüllungsartikel widmen sich inzwischen dem vermeintlich so glamourösen Leben der professionellen Meinungseinflüsterer und Markenpersönlichkeiten.
Ein derartiger gesellschaftlicher Archetyp braucht natürlich auch einen passenden Gegenspieler: Held und Schurke, Emo und Macho, Räuber und Gendarm. Wer in den vergangenen Wochen dem Social-Media-Getuschel Beachtung schenkte, konnte also unter Umständen live und in Farbe der Geburt des De-Influencers beiwohnen. Der sagt nun, anstatt mit all seinen gesponserten Einkäufen und Gratisproben zu prahlen, für welche Kopfhörer, Turnschuhe und Müsliriegel man sein Geld eben nicht ausgeben solle.
Unerhört erscheint das in der Social-Media-Welt, in der so gut wie jede Haltung auch mit einem entsprechenden Markensponsoring einhergeht. Handelt es sich etwa um eine Reaktion auf die schlechten wirtschaftlichen Zustände? Haben die Menschen es endlich satt, an jeder Ecke des Internets Waren feilgeboten zu bekommen? Das Geschäft mit den mehr oder weniger subtilen Konsumhinweisen in den sozialen Medien bringt global 16 Milliarden US-Dollar im Jahr ein. Trotzdem bemängelten Fachblätter wie die Financial Times zuletzt das sich verlangsamende Wachstum und stagnierende Investitionen in den Markt.
Logischerweise hat sich das De-Influencing sofort zu einer eigenen Marketingform entwickelt
So oder so feierten Konsumkritiker und Freunde simpler Kausalketten schon die bevorstehende Abkehr vom kapitalistischen System. Was dabei leider übersehen wurde, ist, dass die Behauptung, gegen zu viel Kommerz zu sein, natürlich auch schon eine gut abgehangene Werbetaktik darstellt. Logischerweise hat sich das De-Influencing sofort zu einer eigenen Marketingform entwickelt. Es werden dann halt nur die Produkte der Konkurrenz empfohlen.
Die damit einhergehende kognitive Dissonanz scheint man locker auflösen zu können. Wesentlich interessanter ist ohnehin die tiefer liegende Motivation. Mit jedem derartigen Mikro-Trend, der über Nacht in den Feeds auftaucht, verstärkt sich das Gefühl, dass unser Online-Verhalten an einem merkwürdigen und paradoxen Punkt angelangt ist: Die Menschen scheinen mehr denn je von Individualität und Differenzierungszwang besessen zu sein, während sie gleichzeitig an einem der umfänglichsten Lifestyle-Reproduktionsmechanismen der Geschichte teilnehmen.
Während die einen den Hyperindividualismus beklagen, jammern die anderen, dass sich alles und jeder ohnehin gleich anfühle. Alle rangeln in einem überfüllten Raum um die begrenzte Aufmerksamkeit und kämpfen darum, sich einem Algorithmus anzubiedern, der die eigene Persönlichkeit in eine quantifizierbare Ware umwandelt. Also differenziert und differenziert man sich immer weiter, bis man schlussendlich wieder im Mainstream angelangt ist.
Imageverzicht lässt sich so wenig zum Image machen, wie sich Spontaneität planen lässt
Dazu passt, dass letztlich für die Mehrheit der Nutzer der Zweck der Social-Media-Nutzung nicht darin besteht, der Welt mitzuteilen, wie sie die Dinge sehen, sondern wie sie selbst gesehen werden. Oder wie sie sich wünschen würden, gesehen zu werden. Wer sich dabei zu sehr anstrengt, wirkt schnell peinlich. Aber mühelos zu wirken, ist noch anstrengender.
Der gleiche Mechanismus trifft auch den De-Influencer. In einer konsumübersättigten Gesellschaft mag es naheliegend sein, Verzicht als Distinktionsmittel zu benutzen. So wirkt man autonom und der Wert der eigenen Meinung steigt. Doch man kann Imageverzicht nicht zu einem Image machen. Genauso wenig gibt es eine authentische Art, Spontaneität zu planen. "Anti-Fashion" ist auch nur eine Spielart von Mode. So verkommt also die Konsumkritik zu einer Authentizitätsperformance von Menschen, die sich sehr wohl darüber im Klaren sind, dass sie von Tausenden Fans beobachtet werden.