Debatte:Dekolonisiert doch euer eigenes Bewusstsein

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Am Literaturhaus Stuttgart lässt das Festival "Membrane. African Literatures and Ideas" Denker afrikanischer Herkunft miteinander reden und Weiße zuhören.

Von Jörg Häntzschel

Man kennt diese Animationen, die im Zeitraffer darstellen, wie sich die Kontinente über Jahrmillionen formten und verschoben. Könnte man so auch eine animierte Weltkarte der Präsenz von Kontinenten im kollektiven Bewusstsein darstellen, würde Afrika darauf in den letzten Jahren anschwellen wie ein Luftballon. Ewig war es der Zwerg dieser imaginären Weltkarte, beachtet vor allem für seine "drei K": Krankheiten, Kriege und Krisen. Heute investiert China dort Milliarden; die Afrika-Feier "Black Panther" wurde zu einem der erfolgreichsten Filme der Geschichte. Afrika ist seit der Ankunft der Flüchtlinge im zuvor weißen deutschen Alltag präsent, zum ersten Mal beginnt Europa sich seiner Kleinheit bewusst zu werden, und auch Trumps feindliche Übernahme der USA und Chinas aggressive Abschottung lässt den Blick in eine neue Richtung wandern: nach Süden.

Je präsenter Afrika wird, desto deutlicher wird auch, wie schemenhaft in Europa die Vorstellungen von dem Kontinent sind, wie begrenzt der Pool Erfahrungen, aus denen unser "Afrika" gespeist ist. Und wie der koloniale Blick nach wie vor dominiert, was wir von Afrika sehenund wissen.

So entstand die Idee zu dem ambitionierten Festival "Membrane. African Literatures and Ideas", das das Stuttgarter Literaturhaus mit dem Institut Français und der Akademie Schloss Solitude veranstaltete. Fast 50 Schriftsteller, Denker, Künstler und Aktivisten aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora waren gekommen.

Doch wer auf Afrika-Erklärer, Kulturbotschafter und eine Parade afrikanischer Stars gehofft hatte, wurde angenehm enttäuscht. Das Festival verstand sich eher als ein Forum für Debatten unter Menschen afrikanischer Herkunft. Nicht, weil man die Weißen ausschließen wollte. Sondern weil man mit dem "Brückenbauen" und "Vermitteln" das Trennende immer auch fortschreibt. Und weil man mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte genug zu tun hat. Wenn sie "Wir müssen unser Bewusstsein dekolonisieren", von der Bühne riefen, horchte man im Publikum eifrig auf. Doch die Afrikaner meinten sich selbst. Die Europäer müssen das für sich selbst erledigen: "Wir haben lange genug auf euren Plantagen gearbeitet", formulierte es der Politikwissenschaftler Sam Okoth Opondo, "ihr könnt nicht erwarten, dass wir jetzt an eurem Bewusstsein arbeiten."

Deutschland, der Westen, war also Schauplatz des Festivals, doch als Bezugspunkt spielten diese Orte kaum eine Rolle. Genau das öffnete den Raum für Erzählungen, die sonst untergehen. Da war die vor vier Jahren nach Kanada geflohenen burundische Schriftstellerin und Regimekritikern Ketty Nivyabandi: Sie ist dankbar, dass Kanada ihr politisches Asyl zu gewährte. Doch hier konnte sie noch andere Geschichten erzählen als die ihrer Rettung: Etwa die von ihren neuen Freiheiten als Frau, aber auch die von einer sinnlichen Verengung, von einer bedrückenden Flachheit, mit der sie in Kanada kämpft.

Man hörte Berichte von innerafrikanischer Emigration, von Rassismus, Fremdheit und Entwurzelung - nicht in hessischen Kleinstädten, sondern in Afrika. Und statt um die Frage nach der "Identität" von Einwanderern in Deutschland, unterhielten sich hier der Zeit-Redakteur Mohamed Amjahid und der aus Madagaskar stammende Autor Jean-Luc Raharimanana darüber, wie merkwürdig es sei, dass die Leute nicht aufhörten, diese Frage zu stellen. "Sie fragen mich immer, ob ich meine Identität schon gefunden habe", meinte Amjahid. "Ich hatte immer schon eine."

Der entscheidende Satz des Festivals stammte von Souleymane Bachir Diagne, dem in New York lehrenden Philosophen, der aussprach, was wie ein Motto über etlichen Beiträgen stand: "Wir sollten unser Handeln nicht von der Tradition diktieren lassen, sondern von der Zukunft, die wir uns vorstellen." Statt sich stolz in "Blackness" zu flüchten wie ihre Eltern, sollten wir Kategorien wie Schwarz und Weiß hinter uns lassen, so Novuyo Tshuma.

Dass hier so gesprochen werden konnte, dass Afrika und Schwarzsein in einem Zug zum Thema gemacht und als Thema für erledigt erklärt werden konnte, dass der Kontinent ins Zentrum gerückt und gleichzeitig deterritorialisiert wurde, das war möglich durch einen klugen und selbstbewussten Eingriff der drei Kuratoren, die in Berlin lebende Kulturaktivistin Nadja Ofuatey-Alazard, die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor und den Ökonomen Felwine Sarr. Statt, wie üblich, als "Gäste" aufzutreten in einer weißen, deutschen Institution, beanspruchten sie die Gastgeberrolle für sich. Statt auf die Sensibilität von weißen, deutschen Moderatoren und Übersetzern hoffen zu müssen, besetzten Afrikaner diese Funktionen selbst - bis hin zum Caterer. Das war nicht nur eine symbolische Geste. Es herrschte ein enthusiastischer Ton wie man ihn selten in einer deutschen Kulturinstitution zu hören bekommt. Es gab Tränen, es wurde gesungen, die Kleider raschelten und die grauen, faltigen deutschen Gesichter im Publikum sahen sich an, fassungslos, begeistert und etwas beschämt für ihre Kleinheit. Wo war man überhaupt? Die Ankerkette des Lokalen war gekappt, der Raum schwebte.

Ja, es knirschte immer wieder, wenn die Ideen und Geschichten vom Französischen ins Englische, vom Deutschen ins Französische umgefüllt werden mussten (die Kuratoren hätten gerne noch Portugiesisch als vierte Sprache dabeigehabt). Doch dieses ständige Hin- und Herwälzen von Worten wirkte eher ermutigend als ermüdend. Wenn das möglich ist, können wir uns also doch nicht so fremd sein.

Das war auch das Fazit von Souleymane Bachir Diagne. In einem grandiosen Vortrag legte er dar, wie es zu der uralten Idee kommen konnte, die Afrikaner seien aufgrund der Defizite ihrer Sprachen nicht zur Philosophie in der Lage. Das mündete dann in eine Feier der Übersetzung als Grundprinzip der Philosophie. Man halte sich zu sehr mit der Dominanz oder Schwäche von Sprachen auf und der Problematik der Übersetzung, statt die Übersetzung als kreativen und ethischen Akt zu verstehen. In Stuttgart kam man diesem Ideal schon ziemlich nahe.

© SZ vom 27.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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