Das Kinojahr im Rückblick:Magic Moments

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Collage: Christian Tönsmann (Foto: Christian Tönsmann)

Ein Best-of der etwas anderen Art: Besondere Augenblicke des Kinojahres 2017, in denen uns die Augen übergingen, das Herz kurz stehen blieb oder blitzartig neue Erkenntnisse kamen.

Von den SZ-Kritikern

Herren des Nichts

"Hell or High Water" von David Mackenzi

Das Narbengesicht am Pokertisch sieht indianisch aus und bestätigt, Komantsche zu sein. Das fasziniert den weißen Outlaw, gespielt von Ben Foster mit schöner, todesmutiger, dunkler Energie. "Lords of the Plains!" ruft er. "Lords of nothing now", murmelt das Narbengesicht. Haben und Nichthaben in Amerika, darum geht es in Taylor Sheridans großer Story. Die Männer könnten sich in diesem Moment an die Kehle gehen, aber dann finden sie eine Verbindung im geteilten Komantschentum: entrechtet und erniedrigt zu sein, verfeindet mit der ganzen Welt. Tobias Kniebe

Lust: "Fikkefucks", Jan Henrik Stahlberg

Frust: "The Comedian", Taylor Hackford

Im Tiefschnee

"Wilde Maus" von Josef Hader

Keiner scheitert schöner. Die Absicht, den Chef erschießen zu wollen, mündet in der erbärmlichsten Schlägerei des Kinojahres, und auch ein Suizid will gelernt sein. Da hockt er im Schnee der Bergwelt, der Josef Hader, das Brillenglas zersprungen, der Oberkörper nackt, und dann schüttet er Tabletten in die Whiskey-Flasche. Zwei Typen wollen ihn retten, doch er flieht. Wie sich Hader ergo den Weg durch den Schnee bahnt, großspurig und tapsig, zu Vivaldis "La Follia", ist lustig, tragisch, musikalisch, groß. Bernhard Blöchl

Lust: "Fikkefucks", Jan Henrik Stahlberg

Frust: "Ganz große Oper", Toni Schmid

Ascheregen

"120 BPM" von Robin Campillo

Paris in den frühen Neunzigerjahren. Im Kampf gegen Aids hat ein "Act up"-Aktivist recht drastisch um Aufmerksamkeit gekämpft, mit Kunstblut und Sperma; doch vergebens, er stirbt an den Folgen seiner HIV-Infektion. Die Freunde erfüllen ihm seinen letzten Wunsch und entern eine Gala, dort verstreuen sie seine Asche auf Politiker, Pharmalobbyisten, dem Buffet. Dann wird es dunkel, Musik setzt ein: Es wird gefeiert, getanzt und gefickt, alles zu 120 Beats pro Minute. Der Kampf geht weiter. Josef Grübl

Lust: "The Square", Ruben Östlund

Frust: "Hacksaw Ridge", Mel Gibson

Dusch-Szene

"The Salesman" von Asghar Farhadi

Spott kann sehr entlarvend sein. Der iranische Regisseur Asghar Farhadi lässt eine Theatertruppe in Teheran "Tod eines Handlungsreisenden" proben, jene Szene, in der Willy Lomans Sohn hereinplatzt, während im Bad gerade eine fremde Dame duscht. Die Inszenierung muss früher oder später die strenge Zensur überstehen, also ist die Schauspielerin natürlich bekleidet - und zwar, zur Belustigung der restlichen Truppe, mit dem absurdesten Kleidungsstück, mit dem sich ein Mensch unter die Dusche stellen könnte: Es ist ein knallroter Regenmantel, wasserfest. Wenn die Kunst sowieso gezwungen wird, der Realität aus dem Weg zu gehen, ist Duschen sowieso sinnfrei. Susan Vahabzadeh

Lust: "Fences", Denzel Washington

Frust: "Alien: Covenant", Ridley Scott

Knastbrüder

"Paddington 2" von Paul King

Dieser Bär macht die Welt zu einem besseren Ort. Sogar der Knast, in dem Paddington durch eine Verkettung unglücklicher Umstände landet, wird in ein rosarotes Kurhotel verwandelt. Erst wirft das Bärchen in aller Unschuld eine rote Socke in die Anstaltswaschmaschine, woraufhin die schweren Jungs einheitlich Schwarz-Rosa tragen. Dann verzaubert er seine Mithäftlinge mit seiner Orangenmarmelade: Die übliche Gefängnis-Hackordnung zerfällt, alle wollen jetzt kochen. Und backen! Im Friede-Freude-Sahnekuchen-Knast gibt es folgerichtig auch eine Gutenachtgeschichte, von einem Aufseher vorgelesen per Mikrofon für alle. Auch das Kino kann die Welt in einen besseren Ort verwandeln. martina Knoben

Lust: "Körper und Seele", Ildikó Enyedi

Frust: "Alles unter Kontrolle", Philippe de Chauveron

Fröhliches Keuchen

"Der Tob von Louis XIV." von Albert Serra

Ein Keuchen, Ludwig XIV. liegt auf dem Sterbebett und spielt mit seinem Hund. Um den König spuken die Figuren seines Hofstaats herum, Ärzte und Diener und Hofdamen, sie registrieren den langsamen Verfall des Monarchen und besprechen, was noch an Heilmethoden ausprobiert werden könnte: "La mort de Louis XIV.", von Albert Serra. Den Louis spielt Jean-Pierre Léaud. Es ist ein fröhliches Keuchen, als er mit dem Hund spielt, und wenn er plötzlich seinen Kopf wendet, flitzt ein Lächeln über sein Gesicht, wie es dem ganz jungen Léaud zu eigen war, in Truffauts Film "Les 400 Coups". Ein Kino, das die Zeit aufheben kann. Fritz Göttler

Lust: "Manchester by the Sea", K.Lonergan

Frust: "Die Verführten", Sofia Coppola

Entdeckerfieber

"Alien: Covenant" von Ridley Scott

Schwer beladen, bewaffnet und in Tarnkleidung schleichen sie durch den zerklüfteten Nadelwald. Zugleich schön und schrecklich liegt der kalte Nebel in den Baumwipfeln. Es herrscht Totenstille. Die Männer und Frauen sind ahnungslose Astronauten. Und diese Welt, die so vertraut und zugleich fremd aussieht, ist ein neu entdeckter Planet, der entweder das Paradies oder die Hölle verspricht. Seit dem ersten "Alien"-Film von 1979 weiß man eigentlich, dass solche Expeditionen nie gut ausgehen. Trotzdem fiebert man mit diesen Pionieren wie beim ersten Mal und möchte alles, was man über dieses vertraute Unbekannte schon weiß, noch einmal sehen. Nicolas Freund

Lust: "Blade Runner 2049", D. Villeneuve

Frust: "Power Rangers", Dean Israelite

Ein Wiedersehen

"Manchester by the Sea" von K. Lonergan

Ein Mann und eine Frau begegnen sich auf der Straße, zum ersten Mal, Jahre nach einer Familientragödie unermesslichen Ausmaßes. Mitten im öffentlichen Raum kommt es zu einer erschütternd intimen Begegnung, in der nichts ausgesprochen und doch alles gesagt wird, mit ausweichenden Blicken und brüchigen Stimmen. Michelle Williams und Casey Affleck überhöhen diese Begegnung zu einem Oscar-Moment, in dem größte Nähe und größte Entzweiung untrennbar verquickt sind - und sich ein ganzer Film über die Abgründe der Trauer und die zart keimende Möglichkeit des Weiterlebens verdichtet. Anke Sterneborg

Lust: "Blade Runner 2049", D. Villeneuve

Frust: "Die Hütte", Stuart Hazeldine

Fackelzug

"The Lost City of Z" von James Gray

Percy Fawcett (Charlie Hunnam) sucht sein Leben lang nach Z, einer verschollenen Stadt im Urwald; auf seiner letzten Expedition wird er gemeinsam mit seinem Sohn von Indianern sanft auf ein Fackelmeer zugetragen. James Grays romantischer Abenteuerfilm kehrt zum Kino des letzten, längst vergangenen Jahrhunderts zurück, zu Capra, Visconti, Kurosawa. Aber wenn dieses Kino wie die Fackeln verbrennt, dann brennt es auch weiter, und hält, noch wo es verschwindet, sein Licht in unerforschtes Neuland. Philipp Stadelmaier

Lust: "Der Ornithologe", J. P. Rodrigues

Frust: "Dunkirk", Christopher Nolan

Drahtzieher

"Barry Seal" von Doug Liman

Aufgereiht stehen sie da, ganz am Ende von "Barry Seal", die Drahtzieher des Kokain-und-Waffen-Karussells zwischen den USA und Nicaragua: Ronald Reagan, Oliver North, die Chefs der CIA, ganz hinten George Bush. Klar ist das Popcornkino, mit Action und Exotik und Tom Cruise. Aber diese Sequenz zeigt Dokumentarmaterial vom Iran-Contra-Skandal, und augenblicklich verändern die Bilder den Film: Bei allem Wahnwitz hat man nicht nur bloße Unterhaltung gesehen. Es war politische Geschichte. Doris Kuhn

Lust: "Die Nile Hilton Affäre", Tarik Saleh

Frust: "The Square", Ruben Östlund

Wundersam

"Wonder Woman" von Patty Jenkins

Ein Londoner Bahnsteig, Soldaten drängen zur Front des Ersten Weltkriegs. Zwischen ihnen wird etwas verkauft, was Wonder Woman nicht kennt von ihrer Amazoneninsel, die außerhalb von Raum und Zeit liegt: Eiscreme. Sie bleibt kurz stehen, kauft eine Portion, probiert und seufzt: "Es ist wunderbar!" Dann, zum Eisverkäufer, mit großem Ernst: "Sie sollten sehr stolz auf sich sein!" Das ist herrlich an diesem so anderen Superheldenfilm von Patty Jenkins - dass Wonder Woman nicht nur Wunder vollbringt und die Menschheit vor sich selbst retten will, sondern sich auch wahrhaftig und warmherzig wundern kann. Kathleen Hildebrand

Lust: "Paddington 2", Paul King

Frust: "Song to Song", Terrence Malick

Feingefühl

"The Party" von Sally Potter

Noch bevor die Partygäste, die sich dann ihre Lebenslügen und den Verrat ihrer Jugendideale um die Ohren hauen werden, eintreffen, stellt Bill (Timothy Spall) sein Rotweinglas beiseite und legt mit der traumwandlerischen Präzision, die Betrunkene haben können, alte Platten auf. Das Feingefühl, mit dem er die spitze Nadel des Tonabnehmers in die Plattenrillen setzt, ist das genaue Äquivalent zur Treffsicherheit beißender Ironie, mit der Regisseurin Sally Potter ihre Figuren traktieren wird. Rainer Gansera

Lust: "Blind & Hässlich", Tom Lass

Frust: "Happy End", Michael Haneke

Finsteres Herz

"Berlin Syndrome" von Cate Shortland

In der Berliner Wohnung, in der ein Mann junge Touristinnen einsperrt, gibt es eine verschlossene Tür. Irgendwann bekommt die Australierin sie auf. Ein alter Massagesessel aus zerschlissenem Leder steht dort, er bewegt sich und schnauft, als sie ihn einschaltet, wie ein mechanisches Tier. In Wien haben sie den Prater, da begegnet einem so was am helllichten Tag. Das finstere Herz Berlins aber verbirgt sich im Privaten. Nur wer von außen kommt und dann nie wieder gehen darf, findet es. Philipp Bovermann

Lust: "Die beste aller Welten", A. Goiginger

Frust: "Mother!", Darren Aronofsky

Traumatisiert

"Dunkirk" von Christoph Nolan

Die Moonstone fährt Richtung Normandie, um gestrandete Soldaten nach England zurückzuholen. Schon hinzu klaubt die Besatzung - unter ihnen ein halbwüchsiger Junge - einen traumatisierten Offizier von seinem im Meer dümpelnden Wrack. An Bord gibt es ein Handgemenge, am Ende ist der Junge tot. Es mangelt nicht an Opfern und Tätern in diesem Film. Aber dieser eine Junge, dessen Tod ein Unfall ist, und dieser eine Soldat, der das Kind aus Versehen tötet - sie machen die ganze Absurdität des Krieges greifbar. Karoline Meta Beisel

Lust: "Personal Shopper", Olivier Assayas

Frust: "Es", Andrés Muschietti

Triebkräfte

"The Square" von Ruben Östlund

Ein Kunstmuseum in Stockholm hat zur Soiree geladen. Die Appetizer sind noch nicht serviert, da wird auf die schönen und reichen Mäzene ein Performancekünstler losgelassen, der sie in der Rolle eines wilden Affen bald bis aufs Blut verängstigt. Eine Zwölf-Minuten-Szene von nervenaufreibender, ja existenzieller Wucht - aber in Ruben Östlunds Versuchsanordnung nur ein Fragment. Und doch verdichten sich darin alle moralischen Reizpunkte seines Films: der Gemeinschaft helfen oder sich selbst retten? Im Angesicht unseres animalischen Spiegelbilds findet Östlund die Triebkräfte einer auseinanderdriftenden Gesellschaft. Annett Scheffel

Lust: "Lady Macbeth", William Oldroyd

Frust: "Detroit", Kathryn Bigelow

Holografischer Sex

"Blade Runner 2049" von Denis Villeneuve

K (Ryan Gosling) hat eine holografische Freundin, Joi (Ana de Armas), die so programmiert wurde, dass sie die Funktionen einer Partnerin erfüllt. Sie heuert die Sexarbeiterin Mariette (Mackenzie Davis) an, um mit K schlafen zu können. Dafür versucht sie, sich mit Mariette zu synchronisieren, was in einer flickernden, surrealen Verbindung der beiden resultiert. Immer, wenn Mariette sich bewegt, entsteht eine kurze Interferenz. Juliane Liebert

Lust: "Get Out", Jordan Peele

Frust: "Mother!", Darren Aronofsky

Remix einer Jugend

"T2 - Trainspotting" von Danny Boyle

Auch zwei Jahrzehnte später sind die Trainspotting-Helden noch Sklaven der Nadel, diesmal allerdings hängt sie nicht an der Spritze, sondern auf dem Plattenteller. Die Jugendjahre sind verflogen, das Erwachsensein ein Graus; aber Mark (Ewan McGregor) lernt, dass man sich in keiner Lebenskrise vom Tanzen abhalten lassen soll. Also steht er wieder in seinem Teenager-Zimmer mit der alten Tapete, und schwitzt und zappelt allein vor sich hin, als sei die Zeit stehen geblieben, während Iggy Pop "Lust for Life" grölt, diesmal im Midlife-Crisis-Remix. David Steinitz

Lust: "Es", Andrés Muschietti

Frust: "Baywatch", Seth Gordon

© SZ vom 21.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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