Klassik:Die große Versenkung

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Daniil Trifonov hat Bachs "Kunst der Fuge" bereits auf CD herausgebracht. Im Konzert ist er damit überzeugender. (Foto: Dario Acosta/Salzburger Festspiele)

Der Pianist Daniil Trifonov erweckt in München Johann Sebastian Bachs unvollendetes und von unzähligen Spekulationen umwobenes Spätwerk "Die Kunst der Fuge" zu leuchtendem Leben.

Von Harald Eggebrecht

Am Ende dieses eindringlichen Klavierabends im voll besetzten Münchner Herkulessaal geschah so etwas wie ein tiefes Aus-und Aufatmen. Denn Daniil Trifonov, dieser stets hochkonzentrierte, ganz auf die jeweils zu spielende Musik fixierte großartige Pianist, hatte alle hineingezogen in die große Versenkung, mit der er Johann Sebastian Bachs unvollendete "Kunst der Fuge" anging, durchlebt und dargestellt hatte. Ein Werk, dessen Ruhm vordergründig überhaupt nicht in pianistischem Glanz und Gloria besteht, wie es vielleicht eher bei Bachs Goldberg-Variationen denkbar und möglich ist, ohne damit allein deren Dimensionen beizukommen.

Um jedoch nicht missverstanden zu werden: Ohne souveräne stupende Klavierkunst in Technik, Anschlagsvariabilität, Klangfarbenreichtum, rhythmischer Präzision und Darstellungstransparenz im Fugendickicht lässt sich dieser Werkkomplex überhaupt nicht aufführen. Aber wie Trifonov mit seinen schier unendlichen pianistischen Mitteln nichts als Bachs Musik im Saal vergegenwärtigte, löst Bewunderung, ungläubiges Staunen und am Ende dankbare Begeisterung aus. Wie er jede der vierzehn Fugen als ureigenen Prozess gestaltete, an dessen Ende sich die jeweilige Form gewissermaßen wie von selbst gefunden hat, wie er sich der Dynamik der Steigerungen feurig auslieferte, ohne die Übersicht zu verlieren, wie geradezu symphonisch er agierte und auch Rubati, Accellerandi und Riterdandi zuließ, ohne zu romantisieren, es war packend und aufregend. Man kann das alles auch kühler, sachlicher, scheinbar objektiver spielen. Aber Trifonovs Weg durch den so schönen wie strengen Park der Bach'schen Fugenkunst überzeugt im Hier und Jetzt der gerade geschehenden Aufführung durch echte Emphase, nobles Pathos und Wahrheit des Augenblicks.

"Die Kunst der Fuge" ist umlagert von so abschreckenden Begriffen wie "spekulatives Spätwerk" oder "mystisches Alterswerk" oder "Gipfelwerk abstrakter, architektonischer Kompositionskunst" und Ähnlichem mehr. Man sieht geradezu, wie sich die gefurchten Stirnen und ernsten Mienen von Musikwissenschaftlern über die Noten beugen, um deren wahre Geheimnisse zu ergründen ohne die lästige Sinnlichkeit der Aufführung.

Bachs Weltverständnis, seine Gläubigkeit und sein kompositorisches Genie kulminieren in der "Kunst der Fuge"

Dementsprechend gibt es die These, eigentlich sei dies ein Werk ausschließlich für Eingeweihte, das im Grunde nur gelesen und nicht gespielt werden müsse. Zum Glück hat diese Sicht aus dem Elfenbeinturm der vermeintlich wahren Kenner und Wissenden die Musiker nicht davon abgehalten, "Die Kunst der Fuge" bei all ihrer hochgetrimmten Kompositionswissenschaft und Bachs Freude an Zahlenrätseln vor allem als vitale, fulminant virtuose und emotional packende Musik zu verstehen und sich den Aufführungsherausforderungen kühn zu stellen. Denn, um den bedeutenden Münchner Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades zu zitieren: "Musik ist erst dann Musik, wenn sie erklingt."

Trifonov bettet seine Aufnahme dieses Zyklus in ein Gesamtkonzept ein, das zwei CDs umfasst: "The Art of Life - die Kunst des Lebens". Für ihn, so ist im Booklet zu lesen, bildet "Die Kunst der Fuge" eine Art Lebensbilanz von Bach. Nicht nur Bachs Weltverständnis, seine Gläubigkeit und sein kompositorisches Genie kulminieren hier, sondern auch Bach als Familienmensch, als Liebender, als Vater hochbegabter Söhne, die er zu ihrer ganz eigenen Musikerindividualität ermuntert, all das kommt für Trifonov in der "Kunst der Fuge" zusammen.

Daher bietet er auf der ersten CD ein paar Stücke der Bachsöhne Friedemann, Johann Christian, Carl Philipp Emanuel und Johann Christoph Friedrich, um deren Eigenständigkeit zu zeigen. Außerdem spielt er die "Ciaccona" aus der d-Moll-Partita für Solovioline in der Klavierfassung für die linke Hand, wie sie Johannes Brahms für Clara Schumann schrieb. Die Ciaccona gilt als mächtiges Epitaph für Bachs früh verstorbene erste Frau Maria Barbara. Die Brahms-Version bleibt allerdings gegenüber den original viel helleren und leuchtenden Violingefilden etwas dumpf in den tiefen Registern befangen. Im Herkulessaal spielte er sie nicht wegen einer Ellbogenverletzung.

Insgesamt ist Trifonov die Einspielung um eine Nuance zu abgerundet, zu ausgewogen, zu bedachtsam geraten

Auf der CD, nicht im Konzert, bietet Trifonov auch die vier Canons, die zum Komplex der Kunst der Fuge dazugehören: klar, drängend, die Engführungen lustvoll ausreizend. Insgesamt ist ihm die Einspielung des ganzen Konvoluts aber wohl um jene Nuance zu abgerundet, zu ausgewogen, zu bedachtsam geraten, wie es im Studio öfter passieren kann.

Das Cover von Trifonovs Einspielung der "Kunst der Fuge". (Foto: DG)

Dass Bach das Werk nicht vollendet hat und sein Sohn Carl Philipp Emanuel, dort, wo die unvollendete Schlussfuge abbricht, den lapidaren Satz hinzugefügt hat: "ueber dieser Fuge, wo der Nahme B A C H im Contrasubject angebracht worden, ist Der Verfaßer gestorben.", gibt dem Ganzen auch noch die heroische Aura des Fragments, wie sie später auch das unvollendete Requiem von Wolfgang Amadé Mozart bis heute umweht. Natürlich gab und gibt es mehr oder weniger gelungene Versuche, dieses durch den Tod so dramatisch abgebrochene Stück zu vollenden. Trifonov, der sich auch als Komponist versteht, hat sich ebenfalls daran gewagt. Bei ihm klingt dieses Stück nach der Auftürmung um das dritte Thema B A C H überraschend sanft aus, so als ob Trifonov den ungeheuren Fantasiestrom des gesamten Fugenzyklus befrieden und zur Ruhe bringen wollte.

In diese sanfte Schlusswirkung hinein setzt er dann noch den Choral "Jesus bleibet meine Freude", wie ihn die große britische Pianistin Dame Myra Hess 1926 für Klavier bearbeitet hat. Auf seltsame Weise fühlte man sich so gewissermaßen aus den Schroffheiten, den enormen Verdichtungen der verschiedenen Fugengeflechte, der Unausweichlichkeit dieses musikalischen Denkens hinausgeleitet. Zwei Zugaben aus dem "Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach" und danach reichlich Stoff zum Diskutieren und Nachdenken über Bach und seine "Kunst der Fuge".

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