Comic:Wundermittel und Teufelswerk

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In seiner Graphic Novel "Ikon" erzählt der deutsche Comic-Künstler Simon Schwartz von der falschen Zarentochter Anastasia - und dem übersteigerten Glauben an heilige Bilder.

Von Thomas von Steinaecker

Was haben folgende Personen gemein: der Afroamerikaner Matthew Hanson, der behauptete, 1908 noch vor Frederick Cook den Nordpol erreicht zu haben; Joseph Pujol, der Anfang des 20. Jahrhunderts im Moulin Rouge ganze Sinfonien, nun ja, furzte; oder die Hochspringerin Dora Ratjen, die für die deutschen Damen 1938 einen Weltrekord aufstellte, bis sich herausstellte, dass sie eigentlich ein Mann war. Die Antwort: All diese abseitigen Biografien, die sich im Zwischenreich von schräg und genial, tragisch und komisch bewegen, werden seit Jahren gewissenhaft gesammelt und in Comics verwandelt vom deutschen Zeichner Simon Schwartz. Was Schwartz' Arbeiten so bemerkenswert macht, ist vor allem die Art und Weise, wie er diese Lebensgeschichten aufbereitet. In dem Sammelband "Vita Obscura", einer der vergnüglichsten und innovativsten deutschsprachigen Comics der vergangenen Jahre, regiert die Polystilistik. Die Form richtet sich ganz nach dem jeweiligen Charakter. So erfahren wir etwa von Ken Kesey, der in den 1960ern die Freuden von LSD propagierte, in einem psychedelischen Farben-Trip; und die Geschichte des persischen Religionsstifters Mani aus dem dritten Jahrhundert wird in der Art eines zeitgenössischen Frieses in abfotografierten bunten Tontafeln präsentiert.

Es geht Schwartz nicht um den Kriminalfall, sondern um die Bildersucht seiner Figuren

Es verwundert also nicht, dass sich Schwartz in seiner neuen Graphic Novel "Ikon", vom Umfang und Anspruch her sein bisheriges Opus Magnum, erneut einer überaus wunderlichen Figur der Zeitgeschichte zuwendet. Ja, genau genommen haben wir es mit einer Art Tripelbiografie zu tun. Da ist zunächst einmal der junge Gleb Botkin, Sohn des Leibarztes des letzten Zaren und Spielkamerad von dessen fünf Kindern, besonders von der vorlauten Anastasia. Als die Familie nach dem Chaos der Februarrevolution 1917 in den Ural gebracht wird, ist Gleb dabei; in letzter Sekunde entkommt er dem Massaker in Jekaterinburg, bei dem die Leichen der Romanows bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und an einem unbekannten Ort verscharrt werden, und flüchtet in die USA, wo er 1938 die "Kirche der Aphrodite" gründet, eine der ersten neuheidnischen Religionen.

Inzwischen ist in Berlin eine Frau aufgetaucht, die behauptet, Anastasia zu sein. Wie durch ein Wunder habe sie das Gemetzel überlebt. Dass die verwirrt wirkende Frau zwar äußerlich eine starke Ähnlichkeit mit der Zarentochter aufweist, sonst aber weder Russisch spricht noch über Erinnerungen an ihr vermeintliches zu Hause verfügt, wertet die entzückte Boulevardpresse lediglich als Beweis für das erlittene Trauma. So wird die wiedergekehrte Anastasia zum kurzzeitigen Phänomen der Popkultur. 1956 entsteht ein gleichnamiger Hollywood-Film mit Ingrid Bergman, der sehr lose auf der Geschichte basiert; 12 Jahre später dichten die Rolling Stones in "Sympathy for the Devil": "When I saw it was a time for a change / Killed the czar and his ministers / Anastasia screamed in vain ..." Zwar wendet sich nach der anfänglichen Sensation ziemlich schnell das Blatt, und die angebliche Anastasia wird von Mitgliedern der Familie abgelehnt; doch Gleb verliert bis zum Schluss nicht den Glauben an sie. Trotz ihres Hangs zum Messietum und immer stärker zu Tage tretenden Verhaltensauffälligkeiten holt er sie zu sich nach Charlottesville und tut alles, um sich nicht den offensichtlichen Selbst-Betrug eingestehen zu müssen. Als Anastasia 1984 in ein Pflegeheim eingewiesen wird, entführt er sie und macht sich mit ihr zu einem letzten, schicksalhaften Road-Trip auf.

Nach der Ermordung der Zarenfamilie flieht Gleb, und ihm erscheint die Liebesgöttin Aphrodite, die der Zarentochter Anastasia verblüffend ähnlich sieht. (Foto: Avant)

Hier, am Ende, bricht Schwartz sehr auffällig mit der historischen Wahrheit. Gleb Botkin starb bereits 1969; die angebliche Zarentochter war mit dem Historiker John Manahan verheiratet und längst nicht so unschuldig-verwirrt, wie sie in "Ikon" dargestellt wird: Lange führte sie einen erbitterten (und erfolglosen) Rechtsstreit um die Vermögenswerte des Zaren in Deutschland. Erst nach ihrem Tod 1984 bewies ein DNA-Vergleich mit den wiederentdeckten Überresten der Zarenfamilie, was schon zu Lebzeiten als sicher galt: Es handelte sich um eine psychisch kranke Betrügerin, die heute als Anna Anderson oder auch Franziska Czenstkowski bekannt ist und, entweder auf Eigeninitiative oder von ihrem Umfeld gedrängt, die Rolle der aus dem Totenreich Zurückgekehrten spielte.

Aber für diese Hintergründe interessiert sich Schwartz nicht. In einer klugen Kontrastmontage lesen wir sehr früh von ihrem erfundenen Bericht und sehen währenddessen die nüchterne Wahrheit, ein ärmliches Leben in Berlin inklusive Vergewaltigung und Selbstmordversuch. Nicht der Kriminalfall steht also im Mittelpunkt, sondern der übersteigerte Glaube an heilige Bilder, an Ikonen. Und mit ihrem ausdruckslosen Gesicht ist die völlig passiv agierende Franziska Czenstkowski selbst so eine Projektionsfläche für all jene, die einfach nicht aufhören wollen zu glauben, weil sie erlöst werden wollen. Sehr subtil variiert "Ikon" dieses Motiv der Bildersucht, von Gleb Botkins früher Flucht in die Fantasiewelt selbst gezeichneter Bilderfabeln über die repräsentativen Gemälde im Zarenpalast bis hin zu den Filmplakaten der Nachkriegszeit. Regelmäßig eingeschobene Exkurse zur Geschichte der Ikonen, die mal als Wundermittel verehrt, mal als Teufelswerk verdammt werden, verdeutlichen den reflexiven Anspruch der Graphic Novel.

Ohne Zweifel, es ist schon eine Menge Holz, das Schwartz hier auffährt: Eine Geschichte mit mindestens zwei Haupt- sowie zahllosen wiederkehrenden Nebenfiguren, die achronologisch durch das 20. Jahrhundert und zwischen Russland, Deutschland und den USA hin und her springen. Selten hat es in der jüngeren Vergangenheit im deutschsprachigen Raum einen ähnlich ambitionierten Comic gegeben. Dass das nicht immer vollkommen geglückt ist, die Einschübe zur Ikonengeschichte nach einer Weile schematisch wirken und die Geschichte bei einem derartigen Personal besonders in der Mitte überproportioniert wirkt, beeinträchtigt das Lesevergnügen nur geringfügig. Das liegt zu einem guten Teil an Schwartz' klar konturierten Schwarz-Weiß-Bildern, die auf einzigartige Weise den Stil des ehemaligen DDR-Heftes Mosaik weiterführen, von den spitzen Nasen über die übergroßen Augen. Die Figuren bleiben dabei immer comichaft und in ihrer Gestik klar überzeichnet.

Aber allerspätestens in der langen finalen Parallelmontage, in der sich fulminant die Zeiten und Orte zu einem surrealen Wirbel verdichten, verlieren die Protagonisten ihre feine Distanziertheit und der Leser wird Teil einer mitreißend-wahnsinnigen Sinnsuche. Allein dieses meisterhafte Finale macht "Ikon" jetzt schon zu einem der spannendsten Comics des Jahres - und seinen Autor auch international endgültig zu einem der besten seines Fachs.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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