Bis 1967 wurden in England gemäß dem Criminal Law Amendment Act Homosexuelle, die ein Verhältnis mit anderen Männern hatten, wegen "grober Unzucht" verurteilt. Hatten sie Glück, wurden sie großzügigerweise vor die Wahl gestellt, entweder für mehrere Jahre ins Gefängnis zu wandern oder sich einer sogenannten chemischen Kastration zu unterziehen: Dem Patienten werden unter anderem Östrogene gespritzt, was zu Impotenz und zur Vergrößerung der Brustdrüsen führt.
Das wahrscheinlich bekannteste Opfer dieser Tortur hieß Alan Turing. Sein Fall ist nicht nur deshalb so pikant, weil Turing als eines der größten Mathematik- und Informatik-Genies des 20. Jahrhunderts unter anderem maßgeblich an der Entwicklung des Computers mitwirkte. Er war auch Träger des Order of the British Empire, da er sich um das Land wie nur wenige andere verdient gemacht hatte: Seine Entzifferung des "Enigma-Codes" der Nationalsozialsten war für die Alliierten kriegsentscheidend. All das nutzte Turing am Ende nichts. Zwei Jahre nach seiner Kastration wurde er depressiv und brachte sich mit gerade mal 41 Jahren um, indem er in einen mit Blausäure vergifteten Apfel biss. Nachdem mehrere Versuche seiner Rehabilitierung abgelehnt worden waren mit der Begründung, man habe sich ja nur an das damals geltende Recht gehalten, brauchte England bis 2013, bis die Queen Turing mit einem "Royal Pardon" bedachte. 49 000 andere Opfer, einige sind immer noch am Leben, warten bis heute auf solche Gnaden.
Natürlich ist so eine Biografie der Stoff, nach dem man sich als Künstler sehnt: Ein irgendwie verschrobenes, aber allgemein bewundertes Genie - natürlich weiß und männlich - besiegt Hitler und wird wegen eines vermeintlichen Makels - gerne eine Behinderung, in diesem Fall Homosexualität - geächtet und schwermütig. Kein Happy End. So schlägt man gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: ein bisschen Weltgeschichte, ein bisschen Seelendrama und die unzweifelhaft edle, da politisch korrekte eigene Gesinnung. So in etwa funktioniert die bekannteste Adaption von Turings Leben, der Hollywood-Film "The Imitation Game", der sich allerdings vor allem auf die vermeintlich spannende "Enigma"-Episode stürzt und es vermeidet, beim Thema gleichgeschlechtlicher Beischlaf jemals in die Nähe des Expliziten zu kommen.
Der Leipziger Illustrator Robert Deutsch wählt da einen wesentlich ambitionierteren Weg. In seiner ersten Graphic Novel dient die unheilvolle Affäre Turings mit dem 19-jährigen Arnold als roter Faden. Sehr zielstrebig nimmt der bekannte Wissenschaftler den jungen Arbeitslosen zu sich nach Hause. Arnold fungiert allerdings lediglich als Köder für einen Dieb, der in Turings Haus einbricht. Die eigentliche Katastrophe ist dann nicht dessen Enttäuschung, einem Betrüger aufgesessen zu sein, sondern der Beschluss, damit zur Polizei zu gehen. Denn unweigerlich kommen bei der Klärung des Falls sein Verhältnis und seine sexuelle Orientierung ans Licht, die er bisher geheim hielt.
Wie kann ein solches Genie, das im Begriff steht, in seinem Labor an der Universität Manchester künstliche Intelligenz zu erschaffen, derart blauäugig sein? In kurzen Rückblenden erkundet Deutsch diesen Widerspruch. Von Anfang an zeichnet er Turing als genialen wie kindlich-unschuldigen Freak, der einerseits schon früh eine außerordentliche Begabung an den Tag legt, andererseits sich durch Hypersensibilität und ungünstige Umstände in seine eigene Welt zurückzieht. So wächst er, weil sein Vater Beamter in Indien ist, ohne die Eltern bei einem befreundeten Oberst auf; als sein bester Freund auf der Schule, mit dem er seine Begeisterung für Mathematik und seine homosexuellen Neigungen entdeckt, an Tuberkulose stirbt, wird das zum lebenslangen Trauma. Im Computerdepartment der Universität arbeitet er nach dem Krieg an dem Computer "Manchester Mark 1"; seine Spleens, wie etwa als Schutz vor Keimen eine Gasmaske zu tragen, sieht man dem Hochdekorierten nach. Wie fragil diese Toleranz tatsächlich ist, erfährt Turing schnell, nachdem seine "grobe Unzucht" bekannt wird.
Deutsch ist weit davon entfernt, eine kohärente, in sich geschlossene Comic-Biografie vorzulegen. Vor allem mit seinen in kräftigen Farben gehaltenen Acrylbildern gelingt es ihm wunderbar, eine zugleich authentisch altmodische wie surreale Welt zu evozieren. Nicht zufällig bewegen sich viele Figuren wie ungelenke Roboter; regelmäßig sehen wir detaillierte Querschnitte von Häusern, die an Schaltpläne erinnern, wie überhaupt das Buch weniger an einem spannenden Erzählfluss als an einer klug gebauten Seitenarchitektur interessiert ist. Auch für Turings Obsessionen findet Deutsch interessante Bilder: So passt der ausgestellt naive Stil zu Turings vermeintlich kindlichem Wesen und seinem Faible für das "Schneewittchen"-Märchen, das ihn angeblich auch zu seinem Selbstmord inspirierte. Überall hocken hier in der englischen Heidelandschaft Zwerge. Zusammen mit den Darstellungen von männlichem Sex wird daraus eine sehr eigene kitschig-schockierende Bildwelt.
Was sich formal als Stärke erweist, die Konzentration auf Tableaus, stellt für das Buch jedoch inhaltlich ein Problem dar: Die "Enigma"-Episode, die Turing in der zweiten Hälfte des Comics den Polizisten zu Protokoll gibt, gerät fantasielos und sehr textlastig, wie überhaupt die Flashbacks oft unbeholfen wirken, gerade wenn sie neben äußerst gelungenen Episoden stehen, in denen Turing in seine Traumwelten abdriftet. Es bleibt wie bei so vielen Debüts der Eindruck eines vielversprechenden Talents, bei dem abzuwarten ist, ob es für seinen bemerkenswert eigenwilligen Zeichenstil die richtige Erzählweise findet.
Robert Deutsch: Turing. Avant Verlag, Berlin 2017. 192 Seiten, 29,95 Euro.