A priori fragt man sich: Was will man denn da? Claus Peymann inszeniert Ionescos "Die Nashörner". Am Stadttheater Ingolstadt, ein Vorgang, für den Thomas Bernhard vermutlich vor Freude sein Stück "Der Theatermacher" angepasst hätte. Zwar ist Ingolstadt nicht Butzbach oder Utzbach, es bleibt aber dennoch die Frage, was man vom ältestmöglichen weißen Mann des deutschsprachigen Theaters erwarten soll - Peymann ist Jahrgang 1937 -, wenn der ein Stück auf die Bühne bringt, das zwar politisch hellsichtig, aber halt auch ästhetisch in einer vergangenen Zeit verhaftet ist. Hinterher stellen sich diese Fragen nicht mehr, weil man einem kleinen Meisterwerk beiwohnte, einer intellektuell durchlässigen, hochpräzisen und rasanten Aufführung mit bewundernswerten Darstellern.
Von der ersten Idee bis zur Premiere dauerte es sechs Jahre
Eine leichte Geburt war es nicht. Vor sechs Jahren, damals war Peymann noch Chef des Berliner Ensembles, fragte ihn der Ingolstädter Intendant Knut Weber, ob er sich vorstellen könne, mal an seinem Haus zu arbeiten. Peymann kam. Sah sich viele Aufführungen in Ingolstadt an, fand die Inszenierungen blöd, die Schauspieler toll, und beschloss, an der Donau Marieluise Fleißers "Fegefeuer in Ingolstadt" zu inszenieren. Doch dann kam einiges dazwischen, in der Folge zeigte sich Peymanns Gesundheit weniger robust als erhofft, er selbst inszenierte in Wien zwei Stücke Ionescos, "Die Stühle" und "Der König stirbt", worauf er in Ingolstadt zu den "Nashörnern" wechselte, als persönliche Ionesco-Trilogie. Probenbeginn war dann vor einem Jahr, Corona machte das Arbeiten unmöglich, die Premiere wurde verschoben und verschoben. Jetzt ist sie raus.
Theater ist auch eine Handwerkskunst, und Peymann führt das grandios vor. Das große Haus in Ingolstadt wurde einst als Opernbühne konzipiert, ist also für Sprechtheater nur bedingt geeignet. Was macht Peymann? Lässt sich von Paul Lerchbaumer eine Bühne auf die Bühne stellen, ein Holzquadrat, das sich in den Orchestergraben neigt. Als Ausstattung braucht er ein paar leere Fenster- oder Türrahmen, fünf Stühle, ein Bett, die atmosphärisch effektvolle Musik von Sebastian Sommer, mehr aber nicht. Wird das wenige, was da ist, zwischen den Akten umgeräumt, zeigt Peymann auch dies, im Halbdunkel des Bühnenlichts.
Alle sprechen so schön, als würden sie singen - in hohem Tempo, wie ein lyrisches Uhrwerk
Ionesco entwirft eine Parabel mit Archetypen, denen Peymann aber subtil alles Schablonenhafte nimmt. Der Angestellte Behringer, der zu viel trinkt und seine Existenz sinnlos findet, wird Zeuge, wie um ihn herum alle zu Nashörnern werden, die naive Daisy, die er liebt, die Kollegen im Büro, die Leute auf der Straße, sein Freund Hans, die linke Verschwörungstheoretikerin (bei Ionesco ein Mann), der natursüchtige Rechtsaußen, der linientreue Bürowurm. Nur er, der nicht funktioniert, stellt sich dagegen, bleibt als Einziger und Letzter ein Mensch. Die Lust am Absurden kostet Peymann in der Sprache aus; alle Darstellenden sprechen so schön, als würden sie singen, in hohem Tempo und wie ein lyrisches Uhrwerk. Die allumfassende Verwandlung in Dickhäuter, die man nur hört, aber nicht sieht, ist ein Bild für Totalitarismus und Entindividualisierung; Peymann reitet darauf gar nicht herum, er vertraut zu Recht darauf, dass sich das ohnehin miterzählt.
Alle sind schwarz-weiß und durchaus elegant gekleidet, haben weiß angemalte Gesichter, könnten Pantomimen sein, sind aber hyperreal echt. Enrico Spohn spielt den Behringer, als wäre er dem Film "Kinder des Olymps" oder einer anderen poetischen Idee entstiegen, er kann zusammensinken wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten sind, er schwärmt und verzweifelt, er ist wundervoll. Und Sascha Römisch liefert ein Kabinettstück ab, wird auf offener Bühne schnaubend und grunzend zum Nashorn, während er als Hans protofaschistischen Unsinn absondert. Alles, was die insgesamt zehn Menschen auf der Bühne spielen, ist pure Faszination, und Peymann feiert sie voller Dankbarkeit beim Schlussapplaus.
Beim Empfang nach der Premiere ergreift er selbst das Mikrofon, erzählt von Problemen bei den Proben, sieht das Theater als gesellschaftlichen Traum in Gefahr und hält ein Plädoyer für die "Titanen" (also sich selbst) und die Diskussion über Machtabbau am Theater für "Gequatsche". Nach dieser Inszenierung sei es ihm verziehen.