Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern":Fröhliche Vernachlässigung

Lesezeit: 3 min

Eskapistische Sprachlosigkeit: Nach Westen Flüchtende aus den östlichen Gebieten des besiegten Nazi-Reiches 1945. (Foto: dpa)

Christiane Hoffmann hat auf den Spuren der Flucht ihres Vaters eine therapeutische Wanderung von Ost nach West unternommen.

Von Kurt Kister

Ich beginne diesen Text mit dem wichtigsten Wort des Buches von Christiane Hoffmann: ich. Das zweitwichtigste Wort ist du, und mit du meint Hoffmann ihren Vater, der 2018 gestorben ist. Sein Tod war für die Autorin der letzte Anlass, eine lange Wanderung durch das heutige Polen und Tschechien zu machen. Zu Fuß und allein, wie man im Laufe des Buches immer wieder gesagt bekommt, weil so viele Menschen, denen Hoffmann unterwegs begegnet, danach fragen. Sie läuft genau den Weg, den ihr Vater als Neunjähriger im Winter 1945 zurücklegen musste; mit seiner Mutter war er Teil eines Flüchtlingstrecks aus dem Heimatdorf Rosenthal in Schlesien, heute das polnische Różyna. Die Deutschen flohen vor den russischen Truppen; ihre Flucht endete nach sechs Wochen und 550 Kilometern in Klinghart im Sudetenland, heute Křižovatka in Tschechien, nahe der Grenze zu Sachsen.

Ein Geschichtsbuch ist das nicht; nicht einmal eines jener autohistorischen Wanderbücher, in denen mehr oder weniger empfindsame Menschen die ehemalige Grenze zur DDR, die Reichsstraße 1 von Aachen nach Königsberg oder den Weg der napoleonischen Truppen nach Moskau zurücklegen und dabei Geschichte und Geschichten nacherzählen. Hoffmanns Buch ist eigentlich eine Selbsttherapie; es wechselt formal zwischen einem Monolog einer in sich hineinhorchenden, allmählich älter werdenden Tochter, der sich an den toten Vater richtet, und der subjektiven Reportage einer genau beobachtenden Reporterin, die vor allem durch die Wiedergabe von Gelegenheitsgesprächen Atmosphärisches heraufbeschwört, das hin und wieder große Geschichte erklärt.

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Selbst ihr Vater, der zu verstehen schien, wonach seine Tochter suchte, bot nur begrenzte Hilfe

Hoffmann war lange Zeit eine sehr respektierte Reporterin und Korrespondentin bei der FAZ, später beim Spiegel. Vor ein paar Monaten wechselte sie als stellvertretende Regierungssprecherin, nominiert von den Grünen, die Seiten. Früher stellte sie die Fragen und schrieb über die Antworten und deren Umstände. Heute ist sie eine Verballobbyistin der Ampelregierung und gibt Antworten auf die Fragen anderer. Identitäten können sich ändern.

Die Unsicherheit über die eigene Identität, die Suche nach Heimat keineswegs nur im geografischen Sinne, das Abtasten von Gefühlen und familiären Prägungen - dies alles ist für Hoffmanns therapeutische Wanderung von Ost nach West bedeutend. Sie wurde 1967 geboren und gehört damit gerade noch der ersten Generation der Nachkriegskinder an. Sie hat, wie viele aus dieser Generation, die Erfahrung gemacht, dass Eltern, Großeltern und andere sogenannte Zeitzeugen sehr oft nicht das erzählen konnten oder wollten, was den Kindern geholfen hätte, sich und die Älteren zu verstehen.

Penetrante Suchende: Christiane Hoffmann, geboren 1967, war bis zum vergangenen Jahr Reporterin beim "Spiegel", seit ein paar Monaten ist sie stellvertretende Regierungssprecherin. (Foto: imago stock/Eventpress)

Die besten Passagen dieses Buches widmen sich der eskapistischen Sprachlosigkeit, dem hin und wieder hilflosen Bemühen, aber auch der fröhlichen Vernachlässigung, die es in Deutschland, in Polen, in Tschechien gab und gibt, wenn von "damals" die Rede ist oder sein sollte. Selbst ihr Vater, der zu verstehen schien, wonach seine Tochter suchte, bot nur begrenzte Hilfe. Andererseits, auch das wird in dem Bekenntnisbuch deutlich, ist Christiane Hoffmann eine im guten Sinne des Wortes penetrante Suchende, auch weil sie offenbar mit dem Zweifeln sehr vertraut ist.

Die erfahrene, eloquente Reporterin tritt immer dann zutage, wenn es um Kriegs- und Nachkriegsgeschichte geht und darum, wie sich das große Unheil in Dörfern, Familien, einzelnen Menschen niedergeschlagen hat. Hoffmann kann als ehemalige Iran- und Russlandkorrespondentin auch seriöse Völkerpsychologie, die sich zumeist in den Wahrnehmungen einzelner Menschen widerspiegelt -wie waren die Russen, was denken die Polen über die Deutschen, wie fühlen sich die Deutschen, die lange nach Flucht und Vertreibung mit dem Reisebus für ein paar Tage zurückkamen?

Immer wieder spürt man eine gewisse Grundskepsis der Autorin über die Macht der Vernunft angesichts von Nationalismus, Schulddebatten oder auch nur fahrlässigem Desinteresse. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine, der zum Zeitpunkt des Abschlusses des Buches noch in der Zukunft lag, wird manches an Hoffmanns Analyse, aber auch manches an ihren Gefühlen bestärkt und bestätigt.

Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H. Beck, München 2022. 280 Seiten, 22 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Selbst für Menschen, die solche Ich-Bücher respektive Autotherapien in Buchform nicht goutieren, könnte Hoffmanns Buch einen Versuch wert sein. Es ist nämlich auch ein Sachbuch - ein Sachbuch in dem Sinne, dass es sich mit Flucht und Zwangsmigration, mit dem immer noch nicht leichten Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn und mit dem Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte beschäftigt. Man muss nur über gelegentliche groblyrische Sprachbilder hinweglesen - ein zweibeiniges Ortschild, das der Autorin "zunickt"; ihre Vorliebe für Metaphern mit Riesen; die wiederholte Beschreibung, ein älterer Mensch sitze da, als sei er "gestern gestorben".

Für jene anderen aber, die sich von solchen Büchern gerne "berühren" lassen, die mit der Autorin fühlen und auch ihre Wanderschmerzen nacherleben, ist Christiane Hoffmanns Seelen-Sachbuch nahezu großartig. Man kann das Gefühl entwickeln, dabei zu sein. Und das ist im Zeitalter der Zeigefinger-Ratgeber, der buchgewordenen Betroffenheitsessays und der Ich-weiß-es-besser-Streitschriften nicht so schlecht.

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