Zeitgeist:Das Anna-Karenina-Prinzip

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Philip Manow erklärt die "Politische Ökonomie des Populismus", Chantal Mouffe empfiehlt ihn der westeuropäischen Linken - über zwei Neuerscheinungen des Suhrkamp-Verlags.

Von Jens Bisky

Überall lauern Populisten. Aber was heißt das schon? Ein Etikett, das man Donald Trump und Beatrix von Storch, Hugo Chávez und Marine Le Pen, Alexis Tsipras und Viktor Orbán gleichermaßen anheftet, scheint in seiner Vagheit vom Wesentlichen notwendig abzulenken. Gemeinsam sei den verschiedenen Populismen, schrieb 2016 der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, deren "moralischer Alleinvertretungsanspruch". Populisten behaupten, sie allein würden das Volk repräsentieren. Wer anders denke, gehöre nicht zum "wahren Volk". Der Vorwurf trifft in erster Linie die vermeintlich kosmopolitischen liberalen Eliten.

Philip Manow, der in Bremen Politikwissenschaft lehrt, reicht das nicht. Wer nur von Alleinvertretungsanspruch, Abgrenzungsrhetorik und Konfrontationslogik spreche, hebe die Debatte "in den Bereich der politischen Leidenschaften und der Moral". Wenn man der anderen Seite nicht zugestehe, sie könne ein Argument, ein berechtigtes Motiv haben, verkomme der Streit, werde unergiebig und hysterisch. Statt sich also ins Getümmel zu stürzen, geht Manow auf Distanz und stellt die Frage: Wieso richtet sich der Protest in Nordeuropa eher gegen Migration, "also rechtspopulistisch gegen die freie Bewegung von Personen", in Südeuropa aber "eher gegen die 'neoliberale' Wirtschaftsordnung, also die freie Bewegung von Gütern und Kapital sowie die fiskalpolitische Zurückhaltung des Staates"? Die Antwort skizziert Manow in seiner "Politischen Ökonomie des Populismus". Wer an den Wahlabenden dieses Jahres nicht entgeistert auf die Glotze starren will, sollte dieses schmale, analytisch klare und erfreulich polemische Buch vorher lesen.

In Nord- und Kontinentaleuropa versöhnt ein vergleichsweise großzügiger, allen zugänglicher Sozialstaat mit den Folgen der Güterglobalisierung. Die Populisten wollen nicht den freien Verkehr von Waren und Geld blockieren, der den exportorientierten Ökonomien Wohlstand sichert, wohl aber die Freizügigkeit von Personen. Sie sind "wohlfahrtsstaatschauvinistisch", verteidigen die Rechte der Inländer gegen Zuwanderung, von der sie glauben, sie sei zu teuer für den Sozialstaat und gefährde auf die Dauer dessen Leistungsfähigkeit.

In Südeuropa ist der Sozialstaat, so Manow, immer klientelistisch geblieben, dient vor allem der Belohnung der eigenen Parteigänger. Weder in Griechenland noch in Italien oder Spanien gebe es "ein ausgebautes nationales System wirtschaftlicher Grundsicherung". Die ankommenden Migranten finden kaum Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, aber Arbeit im informellen Sektor, zu extremen Niedriglöhnen und miserablen Bedingungen. Das wirtschaftliche Wachstum beruht vor allem auf der Binnennachfrage. Sie durch höhere Staatsausgaben anzukurbeln, ist infolge der Austeritätspolitik kaum möglich. Die Zugehörigkeit zum Euro erlaubt keine Währungsabwertung. Die Populisten fordern vor allem protektionistische Maßnahmen gegen die Güterglobalisierung.

Aufregend wird Manows Analyse, wenn er zeigt, wie die Europäische Union durch das Beharren auf den Grundfreiheiten - dem freien Verkehr für Personen, Geld, Waren, Dienstleistungen - die Konflikte verschärft. Daher tauchte die "Eurokrise der Peripherie zeitverschoben als Flüchtlingskrise des Zentrums" wieder auf: "Nun hat jeder die Globalisierung, die er nicht braucht: der eine die Bewegung des Geldes und der Güter, der andere die der Personen."

Philip Manow folgt Anregungen des Harvard-Ökonomen Dani Rodrik, der Populismus als den Protest jener versteht, die sich von der Globalisierung bedroht sehen. Das heißt aber in jedem Land etwas anderes und Verschiedenes je nach sozialer Lage. Es gelte, so Manow, das "Anna-Karenina-Prinzip: Jede Politische Ökonomie ist auf ihre ganz eigene Art unglücklich". Gegenüber allen kulturalistischen Erklärungen hat seine Analyse den Vorzug, dass er auf die Dämonisierung der Populisten und ihrer Wähler verzichten und Klischees korrigieren kann. Die AfD, so das Ergebnis einer genauen Datenanalyse bis hinab auf die Wahlkreisebene, war erfolgreich bei regulär Beschäftigten in wirtschaftlich vom alten deutschen Industriemodell geprägten Regionen. Aber die Wähler hatten um das Jahr 2000 Arbeitslosigkeit selber oder in ihrer unmittelbaren Umgebung erlebt. Nach den Hartz-IV-Gesetzen war ihnen ihr prekärer Status bewusst. Diese "Reminiszenzen" kamen im Sommer 2015 wieder hoch, die Statusangst wurde aktualisiert.

Es gehe, schlussfolgert Manow, im Kern um eine sozioökonomische Auseinandersetzung, um Verteilungsfragen. Den populistischen Protest auf diese Weise ernst zu nehmen, ihn als Symptom tatsächlicher Probleme zu verstehen, ermöglicht deren politische Bearbeitung, statt weiter auf die Wirkung von Moralpredigten und Diskursverbotsschildern zu hoffen.

Während Manow analysiert und immer neue Unterscheidungen trifft, will die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe den "populistischen Moment" für eine Revitalisierung der Linken, eine Radikalisierung der Demokratie nutzen. Sie aktualisiert Überlegungen, die sie schon 1985 gemeinsam mit Ernesto Laclau formuliert hat. Ihre Argumente sind schlecht gealtert.

Der linke, der "gute" Populismus ziele darauf ab, "demokratische Forderungen in einem kollektiven Willen zu bündeln, um ein ,Wir' zu konstruieren, ein ,Volk', das einem gemeinsamen Gegner die Stirn bietet: der Oligarchie". Dazu will Mouffe, die in London lehrt, eine "Äquivalenzkette" knüpfen "zwischen den Forderungen der Arbeiter, der Einwanderer und der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht sowie anderer demokratischer Forderungen, etwa derer der LGBT-Gemeinde".

Wie das gehen soll, bleibt weitgehend im Vagen. Für Mouffe lebt die Demokratie von zwei Traditionen: der des politischen Liberalismus - Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, individuelle Freiheit - und der im engeren Sinn demokratischen mit den zentralen Ideen Gleichheit, Volkssouveränität. Die Spannung, der Konflikt zwischen beiden sei unter "neoliberaler Hegemonie" ausgeschaltet worden. Demokratie wurde postdemokratisch, stehe "nur noch für die Abhaltung freier Wahlen und die Verteidigung der Menschenrechte".

Dieses "nur noch" erklärt auch, warum Mouffe Osteuropa programmatisch ausblendet, obwohl jemand, der sich für politische Mobilisierung interessiert, doch vielleicht ein paar Worte zum Revolutionsjahr 1989 verlieren könnte. Stattdessen igelt sich diese Kampfschrift in der Komfortzone westlinker Gewissheiten ein, wobei, wie üblich, die dreißig glorreichen Jahre von 1945 - 1975 ahistorisch verklärt werden. Ist die Abneigung gegen Margaret Thatcher und Tony Blair für eine Linke in Europa wirklich wichtiger als die Fülle der Erfahrungen demokratischer Neuordnung in den postkommunistischen Ländern?

Am Ende läuft es auf den Kalenderspruch hinaus, der populistische Moment beinhalte auch eine Chance. Wofür? Für Populisten. Aber die gibt es ja schon überall.

Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus. Aus dem Englischen von Richard Barth. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 111 Seiten, 14 Euro. Philip Manow: Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 160 Seiten, 16 Euro.

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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