Cannes:Das faule Ei in der Truppe

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Beim Festival von Cannes gibt es Proteste gegen den Ehrenpreis für Alain Delon, im Wettbewerb läuft derweil düstere Kinokost.

Von Susan Vahabzadeh

Mit Brasilianern sollte man sich lieber nicht anlegen. Zumindest nicht mit dem fröhlichen Völkchen, das Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles in ihrem erfundenen Dorf Bacurau ansiedeln. Der Film spielt in nicht allzu ferner Zukunft, das Dorf liegt fernab von São Paulo oder Brasília, nicht nur geografisch. Die Bewohner haben nicht die Absicht, sich der Bezirksregierung unterzuordnen, sie teilen das wenige, das sie haben, werfen den Präfekten raus, haben ihre eigene Schule aufgemacht und karren sich ihr Wasser mit dem eigenen Tankwagen herbei. In Bacurau sind die Leute arm, gebildet oder nicht, schwul oder nicht, schwarz oder nicht - es interessiert niemanden. Man soll das sicher als Reaktion auf den aktuellen Rechtsdrall in der brasilianischen Politik verstehen.

Die Bedrohung kommt dann aber nicht direkt von Regierungsseite. Sondern eine Gruppe amerikanischer Touristen unter Führung von Udo Kier hat sich eingefunden, und zwar zur Menschenjagd. Der Film spielt klug mit den Bildern von Gewalt. Wie verführerisch sie werden, wenn die Dorfbewohner zurückschlagen, ist beklemmend. Der brasilianische Wettbewerbsbeitrag "Bacurau" ist halb überkandidelter Thriller, halb romantische Beschwörung von Solidarität, wie eine brutale Variante von Asterix und Obelix. Bacurau pfeift jedenfalls auf Rassismus, Homophobie und die Regierung Bolsonaro.

„Les Misérables“ heißt der Wettbewerbsbeitrag des Franzosen Ladj Ly, der lose auf der Vorlage von Victor Hugo basiert. (Foto: Festival de Cannes)

Das Festival selbst hat ein wenig von einer gallischen Trutzburg, die sich gegen die Auflagen der römischen Besatzer verwahrt. Die Welt ist im Wandel, und mit ihr das Kino. Es ist nur nicht ganz klar, wohin die Reise geht. Es sieht so aus, als habe man in Cannes beschlossen, einstweilen mal einfach nicht mitzuwandeln. Fast keine Streamingdienste im Programm, und ein Bollwerk der politischen Korrektheit will das Festival auch nicht werden. Also kriegt, trotz lauter Kritik aus den USA, am Sonntag der Schauspieler Alain Delon eine Ehrenpalme fürs Lebenswerk. Die Kritik richtet sich allerdings nicht gegen das Werk Delons, sondern gegen ihn als Person. Er hat sich gegen die Ehe für alle ausgesprochen, war mit Ex-Front-National-Chef Jean-Marie Le Pen befreundet und ist nicht gerade ein Feminist. Festivalchef Thierry Frémaux sagt, er verleihe ihm ja nicht den Friedensnobelpreis. Und was den Protest aus Amerika gegen die Ehrenpalmen-Entscheidung angeht, ist sein wohlmeinender Rat, die Amerikaner würden ihre Energie besser in Petitionen gegen die Klimapolitik ihrer Regierung investieren. Da hat er ja nicht ganz unrecht.

Mati Diop ist die erste schwarze Frau, deren Film im Wettbewerb gezeigt wird

Frémaux hat dann aber auf die Rufe nach allumfassender Parität, nicht nur in den Auswahlgremien und Jurys, sondern auch bei den Wettbewerbsfilmen, noch mal nachgelegt und erklärt, diese Quotenforderung sei "respektlos". Ein Befund, der bei den meisten Filmemacherinnen keineswegs das Gefühl auslöst, respektiert zu werden. Schweigen wäre besser gewesen, oder ein Verweis auf die Gesamtzahlen. Vier von zwanzig Wettbewerbsfilmen sind von Frauen, und das ist zwar kein Rekord, aber in Cannes schon eine ganze Menge.

Der erste dieser vier Wettbewerbsfilme ist "Atlantique" von Mati Diop. Die Französin ist die erste schwarze Frau überhaupt, deren Film im Wettbewerb gezeigt wird. "Atlantique" spielt in der Vorstadt von Dakar, die Arbeiter auf der Baustelle zu einem luxuriösen Turm werden nicht bezahlt. Die Männer sehen keinen Ausweg, und so wird der Nachtclub am Strand zu einer Frauenversammlung. Die Jungs, erfährt die Protagonistin Ada eines Abends, sind hinaus aufs Meer, sie wollen nach Spanien, auch Adas Freund Souleiman. Ihr bleibt nun nichts anderes übrig, als ihren vermögenden Verlobten zu heiraten. Doch dann bewegt sich diese anfangs realistische Flüchtlingsgeschichte ins Reich der Mythen, wo die Geister der Entrechteten ihre Peiniger heimsuchen, die Ertrunkenen zurückkehren, um offene Rechnungen zu begleichen. Das ist ein im wahrsten Sinne des Wortes fantastischer Ansatz, von der Flüchtlingsproblematik zu erzählen. Aber es sind ein paar Webfehler zu viel in Mati Diops großartig gefilmter Geschichte, die es einem schwer machen, zu unterscheiden zwischen Realität und Geisterwelt.

(Foto: SZ)

Der Franzose Ladj Ly hat seinen Film "Les Misérables" viel klarer gezeichnet, auch wenn die wenigen Anleihen bei Victor Hugos Vorlage eher gewollt wirken. Eine Polizeieinheit ist in der Banlieue von Paris unterwegs, der Chef ist das faule Ei in der Truppe, der Neuzugang will sich an die Regeln halten, irgendwie schaffen sie gemeinsam genau den Aufstand, den sie verhindern sollen. Ladj Ly hat in Paris die Unruhen von 2005 mitbekommen, und wie sich die Jugendlichen aus den Sozialwohnungen und die Polizei gegenseitig hochschaukeln, fängt er gut ein. Am Ende aber erzählt er eine Geschichte ohne Ausweg. Irgendwas muss geschehen, und niemand weiß, was das sein soll.

© SZ vom 17.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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